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ist, nur wenn er gewiß ist, daß er sich an das reine Objekt gehalten und sich selbst zuvor dem Gesetz unterworfen habe, nach welchem die Einbildungskraft in allen Subjekten sich richtet, nur dann kann er versichert sein, daß die Imagination aller ändern in ihrer Freiheit mit dem Gang, den er ihr vorschreibt, zusammenstimmen werde.
[...] Ungeachtet dieser Abhängigkeit unserer Empfindungen von zufälligen Einflüssen, die außer seiner Gewalt sind, muß der Dichter unsern Empfindungszustand bestimmen; er muß also auf die Bedingungen wirken, unter welchen eine bestimmte Rührung des Gemüts notwendig erfolgen muß. Nun ist aber in den Beschaffenheiten eines Subjekts nichts notwendig als der Charakter der Gattung; der Dichter kann also nur insofern unsere Empfindungen bestimmen, als er sie der Gattung in uns, nicht unserm spezifisch verschiedenen Selbst, abfodert. Um aber versichert zu sein, daß er sich auch wirklich an die reine Gattung in den Individuen wende, muß er selbst zuvor das Individuum in sich ausgelöscht und zur Gattung gesteigert haben. Nur alsdann, wenn er nicht als der oder der bestimmte Mensch (in welchem der Begriff der Gattung immer beschränkt sein würde), sondern wenn er als Mensch überhaupt empfindet, ist er gewiß, daß die ganze Gattung ihm nachempfinden werde - wenigstens kann er auf diesen Effekt mit dem nämlichen Rechte dringen, als er von jedem menschlichen Individuum Menschheit verlangen kann.
Von jedem Dichterwerke werden also folgende zwei Eigenschaften unnachlaßlich gefodert: erstlich: notwendige Beziehung auf seinen Gegenstand (objektive Wahrheit); zweitens: notwendige Beziehung dieses Gegenstandes, oder doch der Schilderung desselben, auf das Empfindungsvermögen (subjektive Allgemeinheit). In einem Gedicht muß alles wahre Natur sein, denn die Einbildungskraft gehorcht keinem andern Gesetze und erträgt keinen andern Zwang, als den die Natur der Dinge ihr vorschreibt; in einem Gedicht darf aber nichts wirkliche (historische) Natur sein, denn alle Wirklichkeit ist mehr oder weniger Beschränkung jener allgemeinen Naturwahrheit. [...] Nur in Wegwerfung des Zufälligen und in dem reinen Ausdruck des Notwendigen liegt der große Stil.
Aus dem Gesagten erhellet, daß das Gebiet der eigentlich schönen Kunst sich nur soweit erstrecken kann, als sich in der Verknüpfung der Erscheinungen Notwendigkeit entdecken läßt. Außerhalb dieses Gebietes, wo die Willkür und der Zufall regieren, ist entweder keine Bestimmtheit oder keine Freiheit. [...]
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