Stilleben - Urteil des Blinden - Vielansichtigkeit - Malerei und Relief -
      Bildnis im Spiegel

Bildnis im Spiegel

"Der Maler, der mit Übung und Augenmaß, aber ohne Verstand malt, ist wie der Spiegel, der alle Dinge gegenüber wiedergibt, ohne sie zu kennen."
(Leonardo da Vinci)

Eine wichtige Aufgabe des Spiegels in Gemälden besteht darin, Dinge sichtbar zu machen, die normalerweise dem Betrachter verborgen bleiben würden. Vasari berichtet von einem (nicht erhaltenen) Gemälde des Renaissance-Künstlers Giorgione (1477/78-1510), in dem sich eine Aktfigur von verschiedenen Seiten in reflektierenden Oberflächen (Wasser, Spiegel, Rüstung) spiegelte. So wollte Giorgione beweisen, daß mit Hilfe des Spiegels auch in der Malerei eine gewisse Mehransichtigkeit dargestellt werden kann, was normalerweise nur in der Skulptur möglich ist.
Während Giorgione sich also direkt auf den Paragone bezieht, ist dieser Bezug bei vielen anderen Bildnissen im Spiegel eher indirekt. Der Spiegel dient als Mittel für die Malerei, ihre eigenen Möglichkeiten zu reflektieren: Er liefert ein genaues (bereits zweidimensionales!) Abbild der Wirklichkeit und verkörpert damit das Ideal der Mimesis. Doch die Malerei zeigt sich dem Spiegel noch überlegen. Denn der Spiegel gibt nur das oberflächliche, augenblickliche Bildnis wieder, während die Malerei imstande ist, diesen Augenblick dauerhaft festzuhalten und ihm einen tiefergehenden Inhalt zu verleihen. Somit wird die Malerei als Höchste aller Künste präsentiert, die dem Naturvorbild nicht nur rein äußerlich, sondern auch im Wesen am nächsten kommt. Sein ingegno ermöglicht es dem Maler, die Natur zu übertreffen. [KM]