Kunst-Brief aus München (1882)
Anonym: Kunst-Brief aus München,
in: Allgemeine Kunstchronik, 1882, S. 121f, zitiert
nach: Heidi C. Ebertshäuser (Hrsg.): Kunsturteile
des 19. Jahrhunderts. Zeugnisse - Manifeste - Kritiken
zur Münchner Malerei, München 1983, S. 144.
Hier herrscht seit einer Woche in Künstlerkreisen
eine grosse Bewegung. Die Ursache derselben ist ein
Gemälde von W. Leibl, das, seit einigen Wochen
in seinem Atelier Niemand zugänglich, nun zur allgemeinen
Besichtigung und zum Besten des hiesigen Künstler-Unterstützungsvereines
ausgestellt ist. Der Ruf, der dem Werke voranging, berechtigte
zu den höchsten Erwartungen. Goupil ist des Bildes
halber aus Paris hierher gekommen, ebenso ein Kunstfreund
aus Worms; man sprach von ungeheuere Summen, von 100.000
Mark, die Leibl gefordert habe. Thatsache ist nun, dass
besagter Kunstfreund Leibl 60.000 Mark geboten und Goupil
das Feld seinem Concurrenten geräumt hat. Leibl
dürfte zugreifen, denn alle durch seine Anhänger
in Scene gesetzten Mahnrufe an Bayerns, an Deutschlands
Nationalgalerien dürften bei der Höhe des
Preises erfolglos verhallen.
Was stellt aber das Bild nun vor? - Drei Frauenspersonen
im Betstuhl einer Dorfkirche, - eine junge, von gewöhnlichstem
Äussern, die beiden anderen, Alte von seltener
Hässlichkeit, ein Stück Betstuhl, ein Ende
geweisster Wand. Alles in ungefähr halber Lebensgrösse
mit minutiösester Durchführung gemalt, so
dass man in dem Gebetbuche den Text lesen, an jedem
Kettchen die Gliederung, bei den goldenen Schnüren
und Quasten am Hute der Jungen das Gewinde unterscheiden
kann. Das sind die ungewöhnlichen Vorzüge
am Bilde; ausserdem muss man bewundern, wie Leibl trotz
dieser peinlichen Durchführung es verstanden, doch
mässig in der Erscheinung zu wirken, wie das Ganze
überzeugend in dem von allen Seiten eindringenden
Lichte reflectirt, wirklich an Ort und Stelle gemalt,
sich uns darstellt.
Ob es nun die Aufgabe der Kunst, und eines Künstlers,
der über technische Mittel in so hohem Grade verfügt,
würdig ist, diese dazu zu verwenden und Motive
darzustellen, die auf keine Weise in der Natur im Stande
sind, unser Interesse zu erwecken; ob es künstlerisch
gedacht ist, zwei alte Vetteln mit fast ekelhafter Gewissenhaftigkeit
zu verewigen, bis zu den gichtischen Auswüchsen
ihrer sonst wunderbar gemalten Hände; ob es würdig,
sich zu verlieren bis in's kleinste Gefältel eines
talentlos anilinblau- und schwarz-carrirten Weiberrockes,
darüber liesse sich streiten! Das Bild wird nur
mit dem Namen Holbein zusammen genannt; sicher ist Eines:
Holbein hätte es nicht mehr durchgeführt,
aber er hätte, wenn er dies Motiv gemalt, es in
künstlerisch gerundeter und nobler Weise dargestellt.
(...)
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