Quelle 2: Briefe von Philipp Otto Runge an seinen
Bruder Daniel 1803: Beschreibung der Zeiten-Folge
Peter Betthausen (Hrsg.): Philipp
Otto Runge. Briefe und Schriften, Berlin 1981²,
S. 125-128 u. 129f.
[Dresden] Den 30. Januar 1803
[...]
Ich will Dir doch einmal die vier Zeichnungen von den
"Tageszeiten" einigermaßen beschreiben.
- Die erste: Unten ist ein leichter Nebel, aus welchem
eine große Lilie grade herauswächst. Vier
Knospen fallen aus beiden Seiten in Bogen wieder herunter,
auf welchen vier Kinder sitzen, die Musik machen; die
Knospen tun sich auf, und es fallen Rosen und bunte
Blumen heraus auf den Nebel, der sich von ihnen färbt.
In der Mitte des Bildes steigt die aufgeblühte
Lilie, hell wie ein Licht, schnurgerade in die Höhe,
und in dem Kelche auf jedem Blatte sitzt ein Kind; die
beiden mittleren nach vorn haben sich umfaßt und
sehen einander in die Augen; die beiden zur Linken vertiefen
sich mit dem Blick in den Kelch; und die beiden zur
Rechten in das, was über ihnen ist, nämlich
die Staubfäden, auf welchen drei stehen und sich
umfaßt halten und das Pistill der Lilie in die
Höhe halten, auf welchem die Venus - der Morgenstern
- sitzt; dieser wird vergoldet. Der Himmel ist oben
ganz dunkelblau, welches sich allmählich heller
gegen den Nebel nach unten verliert, so daß die
Lilie mitsamt den Kindern wie ein großes Licht
erscheint. Auf beiden Seiten fallen die Wolken herunter,
deren Ränder hell beleuchtet sind. Nach unten sammelt
sich das Farbige immer mehr, so daß es einen Sonnenaufgang
bildet, der eben nicht leicht darin zu verkennen sein
wird. Das Licht ist die Lilie, und die drei Gruppen
haben, wie sie gestellt sind, wieder Beziehung auf die
Dreieinigkeit. Die Venus ist das Pistill oder der Mittelpunkt
vom Licht, und dieser habe ich mit Fleiß keine
andre Gestalt als den Stern gegeben. - So wie hier nun
das Licht die Farbe vertreibt, so verschlingt in dem
Gegenstücke hiezu die Farbe das Licht. Dies ist
nämlich das zweite, oder der "Abend".
Hier sinkt die Lilie in die Wolken hinunter. Die zwei
vordern Kinder sinken in der Mitte sich in die Arme
und küssen sich; die zwei zur Linken sinken in
den Kelch hinein; und die zur Rechten heben die drei
von den Staubfäden herunter; die Venus sinkt auch
nieder, und die Verhältnisse drücken sich
mehr. Leichte Wolken schlingen sich um die Lilie, und
zur Seite brechen auf dem Horizont Rosen heraus, die
ganz auseinandergeblühet sind. Zur Rechten sitzt
ein Junge darin mit einer Posaune, und links einer mit
einer Trompete, die die Rosen ordentlich mit den Füßen
auseinandertreten. Nun schlingt sich die Rosenranke
höher
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