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Quellen
zu Aufgabe Neubegründung der Kunst aus dem Geist
der Literatur: Goethes Preisaufgaben
Quelle 1: Johann Wolfgang von Goethe: Einleitung
in die Propyläen, 1798
Johann Wolfgang von Goethe: Einleitung,
in: Propyläen, 1. Bd., 1. Stück (1798), S. III-XXXVIII,
zitiert nach: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. XII,
Hamburg 1960, S. 38-55.
[...]
Die vornehmste Forderung, die an den Künstler gemacht
wird, bleibt immer die: daß er sich an die Natur
halten, sie studieren, sie nachbilden, etwas, das ihren
Erscheinungen ähnlich ist, hervorbringen solle.
Wie groß, ja wie ungeheuer diese Anforderung sei,
wird nicht immer bedacht, und der wahre Künstler
selbst erfährt es nur bei fortschreitender Bildung.
Die Natur ist von der Kunst durch eine ungeheure Kluft
getrennt, welche das Genie selbst, ohne äußere
Hülfsmittel, zu überschreiten nicht vermag.
Alles, was wir um uns her gewahr werden, ist nur roher
Stoff; und wenn sich das schon selten genug ereignet,
daß ein Künstler durch Instinkt und Geschmack,
durch Übung und Versuche dahin gelangt, daß
er den Dingen ihre äußere schöne Seite
abzugewinnen, aus dem vorhandenen Guten das Beste auszuwählen
und wenigstens einen gefälligen Schein hervorzubringen
lernt, so ist es, besonders in der neuern Zeit, noch viel
seltner, daß ein Künstler sowohl in die Tiefe
der Gegenstände als in die Tiefe seines eignen Gemüts
zu dringen vermag, um in seinen Werken nicht bloß
etwas leicht und oberflächlich Wirkendes, sondern,
wetteifernd mit der Natur, etwas Geistig-Organisches hervorzubringen
und seinem Kunstwerk einen solchen Gehalt, eine solche
Form zu geben, wodurch es natürlich zugleich und
übernatürlich erscheint.
[...]
Indem der Künstler irgendeinen Gegenstand der Natur
ergreift, so gehört dieser schon nicht mehr der Natur
an, ja man kann sagen: daß der Künstler ihn
in diesem Augenblick erschaffe, indem er ihm das Bedeutende,
Charakteristische, Interessante abgewinnt oder vielmehr
erst den höhern Wert hineinlegt.
Auf diese Weise werden der menschlichen Gestalt die schönern
Proportionen, die edlern Formen, die höhern Charaktere
gleichsam erst aufgedrungen, der Kreis der Regelmäßigkeit,
Vollkommenheit, Bedeutsamkeit und Vollendung wird gezogen,
in welchem die Natur ihr Bestes gerne niederlegt, wenn
sie übrigens, in ihrer großen Breite, leicht
in Häßlichkeit ausartet und sich ins Gleichgültige
verliert. |
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