Quelle 2: Kaiser Wilhelm II.: Die wahre Kunst (18.
Dezember 1901)
Zitiert nach: Reden des Kaisers. Ansprachen,
Predigten und Trinksprüche Wilhelms II., hrsg.
von Ernst Johann, München 21977, S. 99-103. Zugrundeliegend:
Die Reden Kaiser Wilhelms II., hrsg. von Johannes Penzler
u. Bogdan Krieger, 4 Bde., Leipzig 1897-1913.
[...]
Wie ist es mit der Kunst überhaupt in der Welt?
Sie nimmt ihre Vorbilder, schöpft aus den großen
Quellen der Mutter Natur, und diese, die Natur, trotz
ihrer großen, scheinbar ungebundenen, grenzenlosen
Freiheit, bewegt sich doch nach den ewigen Gesetzen,
die der Schöpfer sich selbst gesetzt hat, und die
nie ohne Gefahr für die Entwicklung der Welt überschritten
oder durchbrochen werden können.
Ebenso ist's in der Kunst; und beim Anblick der herrlichen
Überreste aus der alten klassischen Zeit überkommt
einen auch wieder dasselbe Gefühl; hier herrscht
auch ein ewiges, sich gleich bleibendes Gesetz; das
Gesetz der Schönheit und Harmonie, der Ästhetik.
Dieses Gesetz ist durch die Alten in einer so überraschenden
und überwältigenden Weise, in einer so vollendeten
Form zum Ausdruck gebracht worden, daß wir in
allen modernen Empfindungen und allem unseren Können
stolz darauf sind, wenn gesagt wird bei einer besonders
guten Leistung: "Das ist beinahe so gut, wie es
vor 1900 Jahren gemacht worden ist."
Aber beinahe! Unter diesem Eindrucke möchte Ich
Ihnen dringend ans Herz legen: noch ist die Bildhauerei
zum größten Teile rein geblieben von den
sogenannten modernen Richtungen und Strömungen,
noch steht sie hoch und hehr da - erhalten Sie sie so,
lassen Sie sich nicht durch Menschenurteil und allerlei
Windlehre dazu verleiten, diese großen Grundsätze
aufzugeben, worauf sie auferbaut ist!
Eine Kunst, die sich über die von Mir bezeichneten
Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr,
sie ist Fabrikarbeit, ist Gewerbe, und das darf die
Kunst nie werden. Mit dem viel mißbrauchten Worte
"Freiheit" und unter seiner Flagge verfällt
man gar oft in Grenzenlosigkeit, Schrankenlosigkeit,
Selbstüberhebung. [...]
Aber noch mehr: Die Kunst soll mithelfen, erzieherisch
auf das Volk einzuwirken, sie soll auch den unteren
Ständen nach harter Mühe und Arbeit die Möglichkeit
geben, sich an den Idealen wieder aufzurichten. [...]
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