Quelle 2: Hans von Marées an Konrad Fiedler
Anne-S. Domm (Hrsg.): Hans von Marées.
Briefe, München/Zürich 1987, Brief 239, S.
238-241.
Rom, den 29. Januar [1882]
Gleich im Anfang meines heutigen Schreibens muss ich
bemerken, dass ich mich im Letzten ganz falsch ausgedrückt
habe, und das wird mir wohl noch öfter passiren.
Ich hätte das Wort Wahrheit bei Seite lassen sollen;
wenn ich das vielleicht noch unbescheidenere Wort Weisheit
gebraucht hätte, wäre es vielleicht richtiger
gewesen. Und allerdings ist Letztere etwas relativ Erreichbares.
Um das Wesen der Kunst zu verstehen, halte ich es für
unablässlich nothwendig, dass man vor allen Dingen
den Künstler verstehe, denn ohne diesen gibt es
keine Kunst; wenn man das Wesen der Menschen im Allgemeinen
erkennt, so wird es um so leichter werden, die verschiedenen
Modificationen zu unterscheiden und zu beurtheilen.
Einen geborenen Künstler würde ich denjenigen
nennen, dem die Natur von vorneherein ein Ideal in die
Seele gesenkt hat und dieses Ideal ist es, was ihm die
Stelle der Wahrheit vertritt, an das er unbedingt glaubt
und welches zur Anschauung der anderen sich selbst zum
reinsten Bewusstsein zu bringen, seine Lebensaufgabe
wird. [...]
[...] Wenn ich vorher von meiner eigenen Kindheit sprach,
so geschah es desshalb, weil ich damit sagen wollte,
dass ich von vorneherein einen Massstab in mir fühlte,
an dem ich mein eigenes Urtheil bilden konnte. Und letzteres
zu bilden, ist, genau genommen, die Hauptarbeit meines
Lebens gewesen; denn auch der Begabteste kann ohne reifes
Urtheil nichts. "Und er sahe, dass es gut war."
Das muss der Künstler am Ende allerdings sagen
können, wenn auch, da er nur ein Mensch ist, bedingungsweise.
[...]
[...] Wenn es auch dem Menschen nicht gegeben ist, Vollkommenes
zu leisten, so muss er doch dahin streben. Indem er
dadurch bescheiden wird, so lernt er auch seinem Wollen
Maass und Ziel zu setzen. Wer etwas will, was er durchaus
nicht kann, legt dadurch kein glänzendes Zeugniss
seiner Intelligenz ab. Wenn der Künstler wirklich
Alles leistet, was er kann, so ist er zu dem höchst
Erreichbaren gelangt. Ich halte dies für eine der
grössten Seltenheiten und finde, dass die Hauptursache
immer in rein menschlichen, moralischen Veranlassungen
liegt. Es ist keine Frage, dass auch äussere Umstände
sehr viel ausmachen. Aber darum sage ich, muss vor allen
Dingen der Künstler bemüht sein, sich über
äussere Umstände, ja über sich selbst
zu erheben. Denn auch in seinen Werken muss er zu guter
Letzt zum kühnen, freien Entschluss gelangen, der
alle Mühe und Qual vernichtet, oder doch den Augen
der Welt entrückt.
[...]
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