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selber noch schwankend und unbestimmt sind und sie desto freiern Spielraum hat: Jupiter, der Vater der Götter und Menschen, wird auf der Insel Kreta mit der Milch einer Ziege gesäugt und von den Nymphen des Waldes erzogen.
Dadurch nun, daß in den mythologischen Dichtungen zugleich eine geheime Spur zu der ältesten verlorengegangenen Geschichte verborgen liegt, werden sie ehrwürdiger, weil sie kein leeres Traumbild oder bloßes Spiel des Witzes sind, das in die Luft zerflattert, sondern durch ihre innige Verwehung mit den ältesten Begebenheiten ein Gewicht erhalten, wodurch ihre Auflösung in bloße Allegorie verhindert wird.
Die Göttergeschichte der Alten durch allerlei Ausdeutungen zu bloßen Allegorien umbilden zu wollen ist ein ebenso törichtes Unternehmen, als wenn man diese Dichtungen durch allerlei gezwungene Erklärungen in lauter wahre Geschichte zu verwandeln sucht.
Die Hand, welche den Schleier, der diese Dichtungen bedeckt, ganz hinwegziehen will, verletzt zugleich das zarte Gewebe der Phantasie und stößt alsdann statt der gehofften Entdeckungen auf lauter Widersprüche und Ungereimtheiten.
[...]
In den mythologischen Dichtungen ist nun die Lehre freilich so sehr untergeordnet, daß sie ja nicht darin gesucht werden muß, wenn das ganze Gewebe dieser Dichtungen uns nicht als frevelhaft erscheinen soll.
Denn der Mensch ist in diesen poetischen Darstellungen der höhern Wesen so etwas Untergeordnetes, daß auf ihn überhaupt und also auch auf seine moralischen Bedürfnisse wenig Rücksicht genommen wird.
Er ist oft ein Spiel der höhern Mächte, die, über alle Rechenschaft erhaben, ihn nach Gefallen erhöhen und stürzen und nicht sowohl die Beleidigungen strafen, welche die Menschen sich untereinander zufügen, als vielmehr jeden Anschein von Eingriff in die Vorrechte der Götter auf das schrecklichste ahnden.
[...]

Die Erzeugung der Götter
Da, wo das Auge der Phantasie nicht weiter trägt, ist Chaos, Nacht und Finsternis; und doch trug die schöne Einbildungskraft der Griechen auch in diese Nacht einen sanften Schimmer, der selbst ihre Furchtbarkeit reizend macht. - Zuerst ist das Chaos, dann die weite Erde, der finstere Tartarus - und Amor, der schönste unter den unsterblichen Göttern.
Gleich im Anfange dieser Dichtungen vereinigen sich die entgegengesetzten Enden der Dinge; an das Furchtbarste und Schrecklichste grenzt das Liebenswürdigste. - Das Gebildete und Schöne entwickelt sich aus

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