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Quelle 2: Karl Philipp Moritz: Einleitung in: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten, Berlin 1791

Karl Philipp Moritz: Götterlehre oder Mythologische Dichtungen der Alten, Frankfurt am Main 1979, S. 10-45.

Ich habe es versucht, die mythologischen Dichtungen der Alten in dem Sinne darzustellen, worin sie von den vorzüglichsten Dichtern und bildenden Künstlern des Altertums selbst als eine Sprache der Phantasie benutzt und in ihren Werken eingewebt sind, deren aufmerksame Betrachtung mir durch das Labyrinth dieser Dichtungen zum Leitfaden gedient hat. Die Abdrücke von den Gemmen aus der Lippertschen Daktyliothek und aus der Stoschischen Sammlung habe ich mit dem Herrn Professor Karstens, der die Zeichnungen zu den Kupfern verfertigt hat, gemeinschaftlich ausgewählt, um, soviel es sich tun ließ, diejenigen vorzuziehen, deren Wert zugleich mit in ihrer Schönheit und der Kunst, womit die Darstellung ausgeführt ist, besteht.

Gesichtspunkt für die mythologischen Dichtungen
Die mythologischen Dichtungen müssen als eine Sprache der Phantasie betrachtet werden: Als eine solche genommen, machen sie gleichsam eine Welt für sich aus und sind aus dem Zusammenhange der wirklichen Dinge herausgehoben.
Die Phantasie herrscht in ihrem eigenen Gebiete nach Wohlgefallen und stößt nirgends an. Ihr Wesen ist zu formen und zu bilden; wozu sie sich einen weiten Spielraum schafft, indem sie sorgfältig alle abstrakten und metaphysischen Begriffe meidet, welche ihre Bildungen stören könnten.
Sie scheuet den Begriff einer metaphysischen Unendlichkeit und Unumschränktheit am allermeisten, weil ihre zarten Schöpfungen, wie in einer öden Wüste, sich plötzlich darin verlieren würden.
Sie flieht den Begriff eines anfangslosen Daseins; alles ist bei ihr Entstehung, Zeugen und Gebären, bis in die älteste Göttergeschichte.
Keines der höheren Wesen, welche die Phantasie sich darstellt, ist von Ewigkeit, keines von ganz unumschränkter Macht. Auch meidet die Phantasie den Begriff der Allgegenwart, der das Leben und die Bewegung in ihrer Götterwelt hemmen würde.
Sie sucht vielmehr, soviel wie möglich, ihre Bildungen an Zeit und Ort zu knüpfen; sie ruht und schwebt gern über der Wirklichkeit. Weil aber die zu große Nähe und Deutlichkeit des Wirklichen ihrem dämmernden Lichte schaden würde, so schmiegt sie sich am liebsten an die dunkle Geschichte der Vorwelt an, wo Zeit und Ort oft

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