5) Theorie der künstlerischen Schöpfung
Der Sinn aber für das höchste Schöne
in dem harmonischen Bau des Ganzen, das die vorstellende
Kraft des Menschen nicht umfaßt, liegt unmittelbar
in der Thatkraft selbst, die nicht ehr ruhen
kann, bis sie das, was in ihr schlummert, wenigstens
irgend einer der vorstellenden Kräfte genähert
hat. - Sie greift daher in der Dinge Zusammenhang, und
was sie faßt, will sie der Natur selbst ähnlich,
zu einem eigenmächtig für sich bestehenden
Ganzen bilden. [...]
Die Natur konnte aber den Sinn für das höchste
Schöne nur in die Thatkraft pflanzen, und durch
dieselbe erst mittelbar einen Abdruck dieses höchsten
Schönen der Einbildungskraft faßbar, dem
Auge sichtbar, dem Ohre hörbar, machen; weil der
Horizont der Thatkraft mehr umfaßt, als der äussre
Sinn, und Einbildungs- und Denkkraft fassen kann.
[...]
Der Horizont der thätigen Kraft aber muß
bei dem bildenden Genie so weit, wie die Natur selber,
seyn: das heißt, die Organisation muß so
fein gewebt seyn, und so unendlich viele Berührungspunkte
der allumströmenden Natur darbieten, daß
gleichsam die äussersten Enden von allen
Verhältnissen der Natur im Großen, hier im
Kleinen sich nebeneinander stellend, Raum genug haben,
um sich einander nicht verdrängen zu dürfen.
Wenn nun eine Organisation von diesem feinern Gewebe,
bei ihrer völligen Entwicklung, auf einmal in der
dunklen Ahndung ihrer thätigen Kraft, ein Ganzes
faßt, das weder in ihr Auge noch in ihr Ohr, weder
in ihre Einbildungskraft noch in ihre Gedanken kam;
so muß nothwendig eine Unruhe, ein Mißverhältniß
zwischen den sich wägenden Kräften so lange
entstehen, bis sie wieder in ihr Gleichgewicht kommen.
[...]
Alle die in der thätigen Kraft bloß dunkel
geahndeten Verhältnisse jenes grossen Ganzen, müssen
nothwendig auf irgend eine Weise entweder sichtbar,
hörbar, oder doch der Einbildungskraft faßbar
werden: und um dieß zu werden, muß die Thatkraft,
worinn sie schlummern, sie nach sich selber, aus
sich selber bilden. - Sie muß alle jene Verhältnisse
des grossen Ganzen, und in ihnen das höchste Schöne,
wie an den Spitzen seiner Strahlen, in einen Brennpunkt
fassen. - Aus diesem Brennpunkte muß sich, nach
des Auges gemessener Weite, ein zartes und doch getreues
Bild des höchsten Schönen runden, das die
vollkommensten Verhältnisse des grossen Ganzen
der Natur, eben so wahr und richtig, wie sie selbst,
in seinen kleinen Umfang faßt.
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