Stilleben - Urteil des Blinden - Vielansichtigkeit - Malerei und Relief - Bildnis im Spiegel

Urteil des Blinden

"Mir scheint, die Skulptur ist das wirkliche Sein, die Malerei die Lüge"
(a me mi pare la scultura sia la cosa proprio, la pittura sia la bugia)

Damit bringt der Bildhauer Tribolo in seinem Brief an Benedetto Varchi auf den Punkt, was er vorher am Beispiel eines Blinden erläutert: ein Blinder könne eine Skulptur erkennen, da sie reell existiere, Substanz sei, die Malerei hingegen bedeute ihm nichts, sei reine Illusion.
Interessanterweise griffen gerade die Maler dieses Beispiel in ihren Werken auf, obwohl es ja zuungunsten der Malerei argumentiert. Meist stehen diese Bilder in Zusammenhang mit Darstellungen der fünf Sinne, von denen sie den Tastsinn verkörpern.

Häufig werden sie aber in der Forschung mit verschiedenen Legenden zusammengebracht, die das Kunsturteil des Blinden zum Thema haben:

Francesco Gonelli (Der Blinde von Gambassa)
Filippo Baldinucci berichtet in seinen Künstlerviten von dem Maler Francesco Gonelli, der im 17. Jh. in Gambassa lebte, aber in jungen Jahren sein Augenlicht verlor. Daraufhin wandte er sich der Skulptur zu und schuf Portraitbüsten, indem er seine Modelle abtastete. Sein ausgezeichneter Tastsinn und die Kraft seiner Fantasie machten ihn zu einem berühmten und gefragten Bildhauer.

Der Philosoph Carneades
Der griechische Philosoph Carneades (2. Jh. v. Chr.) soll ebenfalls blind gewesen sein. Dennoch soll er, wie Cicero berichtet, einen kleinen Pan-Kopf gefunden haben.

Während die beiden ersten Legenden die Vorrangstellung der Skulptur untermauern, soll Leonardo in die entgegengesetzte Richtung argumentiert haben.

Leonardos Experiment
Giovan Ambrogio Mazenta berichtet in seinen Memorie von einem Experiment, das sich Leonardo ausgedacht haben soll: Ein Blinder und ein Schwachsinniger sollten zwischen Malerei und Skulptur urteilen. Als man dem Blinden berichtete, daß auf dem Gemälde eine ganze Landschaft mit Tieren, Wäldern und Bergen zu sehen sei, war er davon so begeistert, daß ihm die Statue, die er sofort als einen Mann identifizieren konnte, langweilig erschien. Als man dem Schwachsinnigem Pinsel und Tonklumpen gab, wußte er mit den Pinseln nichts anzufangen, während er aus den Tonklumpen immerhin menschliche Gliedmaßen formen konnte.

 

Lieven Mehus