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Der künstlerische Augenblick Ehe ich das kleinste Urteil fällte, hätte ich vielleicht kategorisch die Art meiner Kunstbetrachtung, meine Ästhetik erklären sollen. Ich weiß, daß die notgedrungen verkürzten Ansichten, die ich beiläufig geäußert habe, ein Schlag ins Gesicht der geltenden Meinungen waren und daß man mir diese offenherzigen, scheinbar durch nichts bewiesenen Behauptungen übelnimmt.Wie jeder andere habe ich meine eigene kleine Theorie, und wie jeder andere halte ich meine Theorie für die einzig richtige. Auf die Gefahr hin, nicht unterhaltsam zu sein, werde ich Ihnen diese Theorie darlegen, aus der sich meine Vorlieben und Abneigungen ganz natürlich ergeben.Für das Publikum - und ich gebrauche das Wort hier nicht im schlechten Sinn - ist ein Kunstwerk, ein Gemälde etwas Liebliches, was das Herz bewegt oder aufwühlt; es ist ein Blutbad, wenn die zuckenden und stöhnenden Opfer sich vor den Gewehren, die sie bedrohen, wälzen, oder es ist ein bezauberndes, blütenreines junges Mädchen, das im Mondenschein auf einen Säu(19)lenstumpf gestützt träumt. Ich will damit sagen, daß die Menge in einem Bild nur ein Motiv sieht, das sie bei der Kehle packt oder ihr Herz ergreift, und daß sie vom Künstler nichts anderes verlangt als eine Träne oder ein Lächeln.Für mich - für viele Menschen, will ich hoffen - ist ein Kunstwerk hingegen eine Persönlichkeit, eine Individualität.
Ich verlange vom Künstler nicht, daß er mich rührt oder mir schaurige Alpträume beschert, sondern daß er sich selbst mit Haut und Haaren preisgibt, daß er laut und deutlich einen großen, originellen Geist, eine starke, entschiedene Natur zur Geltung bringt, die sich die Natur umfassend zu eigen macht, und daß er diese, so wie er sie sieht, vor uns hinstellt. Mit einem Wort, ich empfinde tiefste Verachtung für belanglos Fingerfertiges, für gezielt Schmeichelhaftes, für im Studium Erlerntes und durch zähes Arbeiten vertraut Gewordenes, für all die theatralischen Historiengemälde dieses Herrn und für all die parfümierten Träumereien jenes Herrn. Doch ich empfinde tiefste Bewunderung für individuelle Werke, die mit einem Wurf aus einer kraftvollen, einzigartigen Hand kommen.

Es geht hier also nicht um Gefallen oder Nichtgefallen; es geht darum, man selbst zu sein, sein unverhülltes Herz zu zeigen, energisch eine Persönlichkeit auszudrücken.

Ich bin für keine Schule, weil ich für die menschliche Wahrheit bin, die jegliche Cliquenwirtschaft und jegliches System ausschließt. Das Wort »Kunst« mißfällt mir; es enthält irgendwelche Vorstellungen von notwendigen Maßregeln, von einem absoluten Ideal. Kunst schaffen, heißt das nicht etwas schaffen, was außerhalb des Menschen und der Natur ist? Ich möchte, daß man Leben schafft; ich möchte, daß man lebendig ist, daß man wieder schöpferisch arbeitet, abseits von allem, den eigenen Augen und dem eigenen Temperament entsprechend. Was ich vor allem in einem Gemälde suche, ist ein Mensch und nicht ein Gemälde.Meiner Ansicht nach gibt es in einem Werk zwei Elemente: das Element des Wirklichen, die Natur, und das Element des Individuellen, den Menschen. Das Element des Wirklichen, die Natur, ist unveränderlich, immer gleich; es existiert für alle auf die gleiche Weise; ich würde sagen, es könnte allen erschaffenen Werken als gemeinsames Maß dienen, wenn ich annähme, daß es dabei ein gemeinsames Maß geben könnte.(20) Das Element des Individuellen hingegen, der Mensch, ist unbegrenzt veränderlich; es gibt ebensoviele verschiedene Werke wie es verschiedene Geister gibt: wenn das Temperament nicht wäre, müßten alle Bilder zwangsläufig bloße Photographien sein.

Ein Kunstwerk ist also immer nur das Zusammenwirken eines Menschen, des veränderlichen Elements, und der Natur, des unveränderlichen Elements. Das Wort »realistisch« bedeutet für mich nichts, da ich das Reale dem Temperament unterordne. Erschafft Wahres, und ich applaudiere; erschafft vor allem Individuelles und Lebendiges, und ich applaudiere noch lauter. Wenn Ihr von diesem Prinzip abweicht, seid Ihr gezwungen, die Vergangenheit zu leugnen und Definitionen zu erfinden, die Ihr jedes Jahr erweitern müßtet.Es ist nämlich ein anderer guter Scherz zu glauben, es gebe, was das Kunstschöne betrifft, eine absolute, ewige Wahrheit. Für uns, die wir uns jeden Morgen eine Wahrheit zurechtmachen, die wir bis zum Abend aufgebraucht haben, gibt es nicht nur eine volle und ganze Wahrheit. Wie jedes Ding ist die Kunst ein menschliches Produkt, eine menschliche Absonderung; die Schönheit unserer Werke wird von unserem Körper aus geschwitzt. Unser Körper verändert sich je nach dem Klima und je nach den Sitten, und im gleichen Maße verändert sich die Absonderung.Das bedeutet, daß das Werk von morgen nicht das von heute sein kann. Ihr könnt keine Regel aufstellen und keine Vorschrift angeben; Ihr müßt Euch beherzt Eurer Natur überlassen und nicht danach trachten, Euch zu belügen. Ihr, die Ihr mühselig tote Sprachen zu entziffern sucht, habt Ihr etwa Angst, in Eurer eigenen Sprache zu sprechen?Meine energische Forderung lautet: keine Werke von Schülern nach Vorbildern der Meister. Derartige Werke erinnern mich an die Schreibübungen, die ich als Kind aus vor mir liegenden lithographierten Vorlagen abmalte. Ich will keine Rückwendungen in die Vergangenheit, keine sogenannten Renaissancen, keine Gemälde, die einem Ideal entsprechen, das man sich aus allen Epochen zusammengesucht hat. Ich will all das nicht, was nicht Leben, Temperament, Realität ist!

Und nun bitte ich Sie, haben Sie Mitleid mit mir. Bedenken Sie, was ein Temperament wie das meine gestern in der allumfassenden trübsinnigen Nichtigkeit des Salons erleiden mußte. Ehrlich (21) gesagt habe ich einen Moment daran gedacht aufzugeben, da ich zuviel Strenge meinerseits vorhersah.Keineswegs möchte ich die Künstler in ihrem Geschmack vor den Kopf stoßen, sie haben mich weitaus heftiger in meinen Sympathien vor den Kopf gestoßen! Verstehen meine Leser meine Lage, sagen sie sich: »Der arme Teufel ist ganz angewidert und unterdrückt mit Rücksicht auf die Leserschaft seine Übelkeit«?

Niemals habe ich eine derartige Anhäufung von Mittelmäßigem gesehen. Dort sind zweitausend Gemälde, und dort sind keine drei Menschen. Von diesen zweitausend Gemälden sprechen fünf oder sechs eine menschliche Sprache; die übrigen erzählen Ihnen parfümierte Albernheiten. Bin ich zu streng? Dabei sage ich nur laut, was die anderen leise denken.Ich verneine unsere Epoche durchaus nicht. Ich glaube an sie, ich weiß, daß sie sucht und arbeitet. Wir leben in einer Zeit der Kämpfe, wir haben unsere Talente und unsere Genies. Aber ich will nicht, daß man Mittelmäßige und Tüchtige durcheinanderbringt, ich halte die gleichmacherische Nachsicht für ungut, die jeden mit einem Lobeswort bedenkt, und somit niemanden lobt.Unsere Epoche ist diese. Wir sind zivilisiert, wir haben Boudoirs und Salons; getünchte Wände sind gut für die kleinen Leute, die Reichen brauchen Gemälde an ihren Wänden. Und deshalb wurde eine ganze Zunft von Arbeitern geschaffen, die das von den Maurern begonnene Werk vollenden. Wie Sie sich denken können, werden viele Maler gebraucht, und sie mussen in Massen aufgepäppelt werden. Im übrigen berät man sie bestens, wie sie gefallen können und den Zeitgeschmack nicht verletzen.Hinzu kommt der Geist der modernen Kunst. Als Reaktion auf das Vordringen von Wissenschaft und Industrie haben sich die Künstler in den Traum, in einen Talmihimmel voller Flitter und Seidenpapier gestürzt.

Sehen Sie doch einmal nach, ob die Renaissancemeister an die entzückenden Kinkerlitzchen dachten, vor denen wir außer uns geraten. Sie waren starke Naturen, die beim Malen aus dem vollen Leben schöpften. Wir sind nervös und unruhig; in uns ist viel Weibliches, und wir fühlen uns so schwach und verbraucht, daß strotzende Gesundheit uns zuwider ist. Mit Sentimentalem und Gekünsteltem kenne ich mich aus!

Unsere Künstler sind Poeten. Das ist eine schwere Beleidigung (22) für Leute, die gar nicht die Aufgabe haben zu denken, aber ich erhalte sie aufrecht. Sehen Sie sich den Salon an: nichts als Strophen und Madrigale. Dieser reimt eine Ode auf Polonia, jener eine Ode auf Kleopatra; einer singt in der Art des Tibull, und ein anderer versucht in die große Trompete des Lukrez zu blasen. Ganz zu schweigen von den Kriegshymnen, den Elegien, den schlüpfrigen Liedern und den Fabeln.Was für eine Katzenmusik!Seid so gnädig und malt, schließlich seid Ihr Maler, singt nicht. Da ist Fleisch, da ist Licht: macht daraus einen Adam, der Eure Schöpfung ist. Ihr sollt Menschen machen und keine Schatten. Doch ich weiß, daß ein splitternackter Mensch in einem Boudoir unziemlich ist. Deshalb malt Ihr große groteske Hampelmänner, die nicht unanständiger und lebendiger sind als die rosa Puppen kleiner Mädchen.Begabte Maler arbeiten anders. Sehen Sie sich die paar bemerkenswerten Bilder im Salon an. Sie fressen ein Loch in die Wand, sie sind beinahe ungefällig, sie schreien im gemäßigten Murmeln ihrer Nachbarn. Maler, die solche Werke fabrizieren, gehören nicht zur Zunft der eleganten Tüncher, von denen ich gesprochen habe. Sie sind nicht sehr zahlreich, sie leben aus sich selbst heraus, außerhalb jeder Schule.

Wie ich schon sagte, kann man der Jury die Mittelmäßigkeit unserer Maler nicht vorwerfen. Doch da sie meint, streng sein zu müssen, warum erspart sie uns dann nicht den Anblick all dieser Trivialitäten? Wenn sie nur die Begabten zuließe, würde ein drei Quadratmeter großer Saal ausreichen.War es so revolutionär von mir, die temperamentvollen Maler zu vermissen, die nicht im Salon auftreten? Wir sind nicht so reich an originellen Persönlichkeiten, daß wir die vorhandenen ablehnen könnten. Im übrigen sterben die Eigenwilligen, wie ich weiß, nicht an einer Ablehnung. Ich verteidige ihre Sache, weil sie mir gerecht erscheint. Aber eigentlich bin ich wegen des Gesundheitszustandes der Begabten unbesorgt. Unsere Väter haben über Courbet gelacht, und wir geraten bei seinem Anblick in Verzückung; wir lachen über Manet, und unsere Söhne werden vor seinen Bildern in Verzückung geraten. Es ist nicht so, daß ich Nostradamus Konkurrenz machen möchte, aber ich habe Lust, dieses merkwürdige Ereignis für die allernächste Zeit vorauszusagen.(23) Postskriptum:

Auf meinen letzten Artikel hin bekam ich eine große Anzahl Briefe und Beschwerden. Ich bin es meiner Würde schuldig zuzugeben, daß mir die geringe Stichhaltigkeit mehrerer Einzelheiten nachgewiesen wurde, deren Richtigkeit man mir zuvor mehrfach bestätigt hatte. Da es so ist, lasse ich die Fakten lieber beiseite und halte mich ausschließlich an meine Kunstauffassung....

 

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