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Die Realisten im Salon | ||
Ich wäre verzweifelt, wenn meine Leser einen Augenblick lang glaubten, ich sei hier der Fahnenträger einer Schule. Es wäre ein völliges Mißverständnis, würde man aus mir einen Realisten, einen von einer Partei Angeworbenen machen. | ||
Ich gehöre zu meiner Partei, der Partei des Lebens und der Wahrheit, das ist alles. Ich habe einige Ähnlichkeit mit Diogenes, der einen Menschen suchte: Ich suche in der Kunst auch Menschen, neue, kraftvolle Temperamente. | ||
Ich schere mich nicht um den Realismus, insofern als dieses Wort nichts Genaues für mich bedeutet. Wenn Sie mit diesem Begriff meinen, daß die Maler die wirkliche Natur studieren und wiedergeben sollen, so steht außer Zweifel, daß alle Künstler Realisten sein müssen. Träume zu malen ist ein Spiel für Kinder und Frauen; die Männer haben die Aufgabe, Realitäten zu malen. | ||
Sie nehmen sich die Natur vor und geben sie wieder, sie geben sie durch ihr jeweiliges Temperament gesehen wieder. So wird uns jeder Künstler eine andere Welt schenken, und ich werde all (31) diese verschiedenen Welten mit Vergnügen annehmen, vorausgesetzt, daß jede der lebendige Ausdruck einer Seele ist. Ich bewundere die Welten von Delacroix und Courbet. Angesichts dieser Erklärung wird man mich, glaube ich, nicht in irgendeine Schule einsperren können. | ||
Nun verhält es sich in unserer Zeit psychologischer und physiologischer Analyse aber so, daß die Wissenschaft in der Luft liegt. Wir werden gegen unseren Willen zum genauen Studium der Dinge und Tatsachen getrieben. Daher setzen sich auch alle aufkommenden starken Persönlichkeiten im Sinne der Wahrheit durch. Die Bewegung der Epoche ist gewiß realistisch oder vielmehr positivistisch. Deshalb muß ich Männer bewundern, die irgend etwas Gemeinsames miteinander haben, die Gemeinsamkeit der Zeit, in der sie leben. | ||
Sollte jedoch morgen ein andersartiges Genie, ein wacher
Geist geboren werden, der uns machtvoll eine neue Erde, seine Erde, schenkt,
so ist ihm mein Beifall sicher. Ich kann es nicht oft genug wiederholen,
daß ich Menschen suche und keine Wachspuppen, Menschen aus Fleisch
und Blut, die sich uns bekennen, und keine verlogenen Hampelmänner,
die nur Kleie im Leib haben.
Man schreibt mir, ich lobte »die Malerei der Zukunft«. Ich weiß nicht, was dieser Ausdruck bedeuten soll. Ich glaube, jedes Genie wird unabhängig geboren und hinterläßt keine Schüler. Um die Malerei der Zukunft mache ich mir wenig Gedanken; sie wird so sein, wie die Künstler und die Gesellschaften von morgen sie erschaffen. |
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Das große Schreckgespenst ist nicht der Realismus,
es ist die eigenwillige Persönlichkeit. Jeder, der anders ist als
die anderen, wird allein dadurch ein Gegenstand des Argwohns. Sobald die
Masse nicht mehr versteht, lacht sie. Damit das Genie akzeptiert wird,
wäre es nötig, die Masse zu bilden. Die Geschichte der Literatur
und der Kunst ist eine Art Märtyrerliste, die das Hohngelächter
beschreibt, mit dem jede neue Außerung des menschlichen Geistes überschüttet
wurde. Es sind Realisten im Salon dabei - ich spreche nicht mehr von eigenwilligen Persönlichkeiten -, es sind Künstler dabei, die die wirkliche Natur in all ihrer Brutalität und Gewalt wiederzugeben behaupten. |
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Um zu beweisen, daß eine mehr oder weniger exakte Naturbe(32)obachtung mich kalt läßt, wenn dem Bild nicht von einer kraftvollen Persönlichkeit Leben eingehaucht wird, werde ich zunächst meine unverblümte Meinung zu Claude Monet, Théodule-Augustin Ribot, Antoine Vollon, Francois Bonvin und Ferdinand Roybet sagen. | ||
![]() Claude Monet, Camille, 1866
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Gustave Courbet und Jean-François
Millet möchte ich gesondert untersuchen. Ich gestehe, daß das Bild, vor dem ich am längsten stehengeblieben bin, die Camille (Camille oder Das grüne Kleid) von Claude Monet war. Das ist ein entschiedenes, lebendiges Gemälde. Ich hatte diese kalten, leeren Säle durchwandert und war es müde, keinem einzigen neuen Talent zu begegnen, als ich diese junge Frau in ihrem schleppenden langen Kleid erblickte, die sich in die Wand hineinbohrt, als wäre dort ein Loch. Sie können sich nicht vorstellen, wie schön es ist, ein wenig zu bewundern, wenn man es leid ist, zu lachen und die Achseln zu zucken. Ich kenne Monsieur Monet nicht, ich glaube sogar, daß ich nie zuvor eines seiner Gemälde gesehen habe. Dennoch kommt es mir so vor, als wäre ich einer seiner alten Freunde. Und das, weil sein Bild mir eine Geschichte voller Energie und Wahrheit erzählt. |
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Er ist ein Temperament, ein Mann in der Masse der Eunuchen. Betrachten Sie die daneben hängenden Bilder und sehen Sie, wie trostlos sie neben diesem in die Natur hinausgehenden Fenster wirken. Er ist mehr als ein Realist, er ist ein einfühlsamer Interpret, der es verstanden hat, jedes Detail wiederzugeben, ohne daß es in Nüchternheit umschlägt. | ||
Sehen Sie nur das Kleid. Es ist geschmeidig und fest.
Es fällt weich, es lebt, es sagt laut, wer diese Frau ist. Es ist
kein Puppenkleid, keiner jener Musselinfetzen, in die man Träume kleidet.
Es ist aus solider, kein bißchen abgetragener Seide, die auf Edouard
Dubufes
Schlagsahnegebilden zu schwer wäre. Sie wollen Realisten, Temperamente, hat man mir geschrieben, sehen Sie sich Théodule-Augustin Ribot an. Ich bestreite, daß Ribot ein eigenständiges Temperament hat, und ich bestreite, daß er die Natur in ihrer Wahrheit wiedergibt. |
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Zunächst zur Wahrheit. Sehen Sie sich dieses große Gemälde an: Jesus unter den Schriftgelehrten in einer Ecke des Tempels. Starke Schatten, breite, fahle Lichtflecken. Wo ist das Blut, wo ist (33) das Leben? Das soll Realität sein! Die Gesichter dieses Kindes und dieser Männer sind doch hohl. In diesem schlaffen, aufgedunsenen Fleisch ist nicht ein Knochen. Soll dieses Bild etwa wirklichkeitsnah sein, weil die dargestellten Menschen vulgär sind? Wirklichkeitsnah nenne ich ein Werk, das lebt, ein Werk, dessen Figuren sich bewegen und sprechen können. Hier sehe ich nur aufgelöste, leichenblasse, tote Geschöpfe. | ||
Was liegt an der Wahrheit, habe ich gesagt, wenn die Lüge von einem einzigartigen, kraftvollen Temperament vorgetragen wird? Dann müßte Théodule-Augustin Ribot ja alles Nötige haben, um mir zu gefallen. Diese weißlichen Lichtflecken, diese schmutzigen Schatten sind bloße Vorurteile; der Künstler hat der Natur den Stempel seiner Persönlichkeit aufgedrückt und hat diese fahle Welt vollständig erschaffen. | ||
Unglücklicherweise hat er überhaupt nichts
erschaffen. Seine Welt existiert seit langem. Es ist eine kaum französisierte
spanische Welt. Das Werk ist nicht nur nicht wahr und unlebendig, sondern
ist obendrein kein neuer Ausdruck des menschlichen Geistes. Théodule-Augustin Ribot hat keinen neuen Beitrag zur Kunst geleistet, er hat nichts Eigenes gesagt, hat uns keine Seele und kein Herz offenbart. Hier handelt es sich um ein unnötiges Temperament, ein unglückliches Zusammentreffen, wenn man so will. Diese unechte Schaffenskraft, diese falsche Persönlichkeit ziehe ich zwar den betrüblichen Nettigkeiten vor, von denen ich sprechen werden muß, aber in meinem tiefsten Innern höre ich eine Stimme, die mir zuruft: »Sieh dich vor! Dieser ist trügerisch. Er wirkt kraftvoll und wahr. Dringe bis in den Kern vor, und du wirst Lüge und Nichtigkeit finden.« Der Realismus besteht für viele - für Antoine Vollon zum Beispiel - in der Wahl eines gewöhnlichen Themas. Dieses Jahr ist Vollon insofern realistisch, als er eine Dienstmagd in ihrer Küche darstellt. Das brave dicke Mädchen war auf dem Markt und hat seine Einkäufe auf dem Boden abgestellt. Es trägt einen roten Rock, zeigt seine gebräunten Arme, sein plumpes Gesicht und lehnt sich an die Wand. |
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Ich sehe darin nichts Wirklichkeitsnahes, denn diese Dienstmagd ist aus Holz und klebt so fest an der Wand, daß nichts sie davon ablösen könnte. In der Natur, im hellen Licht verhalten die Gegenstände sich anders. Küchen sind gewöhnlich sehr luftig, (34) und die Dinge darin nehmen nicht so eine altbackene, braungebratene Farbe an. Zudem sind die Kontraste, die Farbflecken in Interieurs lebhaft, wenn auch gedämpft; es wird nicht alles eingeebnet. Die Wahrheit ist brutaler, intensiver. | ||
Malen Sie Rosen, aber malen Sie sie lebendig, wenn Sie sich Realist nennen. | ||
François Bonvin scheint mir ebenfalls ein platonischer Liebhaber der Wahrheit zu sein. Seine Sujets stammen aus dem wirklichen Leben, aber die Art und Weise, wie er sie behandelt, könnte ebensogut dafür herhalten, die Träume gewisser modischer Maler zu behandeln. An der Ausführung ist irgend etwas Steifes und Kleinliches, was der Figur jegliches Leben raubt. | ||
La Grandmaman (Die Großmutter), die François Bonvin ausstellt, ist eine liebe alte Frau mit der Bibel auf dem Schoß. Sie schnuppert an dem Kaffee, der ihr gebracht wird. Das Gesicht erschien mir angespannt und verzerrt: es ist zu detailliert. Der Blick verliert sich in den liebevoll wiedergegebenen Falten und wäre besser in einem solide gemalten Gesicht aus einem Stück aufgehoben. Die Wirkung zersplittert, der Kopf hebt sich nicht kraftvoll vom Hintergrund ab. | ||
Vor der Eröffnung des Salons gab es einigen Wirbel um Ferdinand Roybets Gemälde Un fou sous Henri III [Ein Narr zur Zeit Heinrich III.]. Es wurde von einer hervorragenden Persönlichkeit, von eindringlichem Realismus gesprochen. Ich habe das Gemälde gesehen und habe die Vorschußlorbeeren nicht begriffen. Das ist redliche Malerei, gewiß solider als die von Jean-Louis Hamon, aber von äußerst mäßiger Vitalität. | ||
Die angekündigte Persönlichkeit hat sich meinen
Blicken nicht offenbart. Der ganz in Rot gekleidete Narr hält zwei Doggen an der Leine, die wie liebe Kinder aussehen. Er lacht mit offenem Mund, und man könnte ihn für einen bekleideten Satyr halten. |
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Das Sujet tut übrigens wenig zur Sache, und das Schlimmste ist, daß ich diese Hunde, vor allem diesen Menschcn kleinlich dargestellt finde. Auch hier wird der Gesamteindruck wieder durch Einzelheiten gestört. Den Stoffen fehlt es an Geschmeidigkeit, die Hände der Figur sehen aus wie Holzschaufeln, und das Gesicht wirkt sorgfältig ziseliert. | ||
Ich spüre in alldem keine Körperlichkeit, und
wenn überhaupt (35) empfinde ich etwas Sympathie für die beiden
Doggen, die viel stabiler dastehen als ihr Herrchen. Das zu den wenigen Realisten im Salon. Einige übergehe ich, die wichtigsten habe ich jedoch genannt und studiert. Ich möchte lediglich noch einmal klarmachen, daß ich keiner Schule verpflichtet bin und daß ich vom Künstler nur verlange, individuell und vital zu sein. |
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Ich habe mich um besondere Strenge bemüht, da ich befürchtete, mißverstanden worden zu sein. Ich hege keinerlei Sympathie für eigenwillige Exzesse und akzeptiere nur wahrhaft individuelle und deutlich herausragende Persönlichkeiten. Jede Schule mißfällt mir, da sie die Negation der Freiheit menschlichen Schaffens ist. In einer Schule ist einer der Meister, und die Schüler sind zwangsläufig Imitatoren. | ||
Ich setze mich also ebensowenig für Realismus wie für etwas anderes ein. Für die Wahrheit meinetwegen, für das Leben, doch vor allem für unterschiedliche Herzen und Seelen, die die Natur unterschiedlich interpretieren. Ein Kunstwerk kann nur wie folgt definiert werden: Ein Kunstwerk ist ein Zipfel der Schöpfung aus der Sicht eines individuellen Temperaments. |