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Text aus: Emile Zola,
Die Salons von 1866-1896, Weinheim 1994

(3) Mein Salon

Die Jury

Der Salon von 1866 wird nicht vor dem 1. Mai seine Pforten öffnen, und erst dann wird es mir gestattet sein, ein Urteil über die Ausstellenden abzugeben.
Vor einer Beurteilung der zugelassenen Künstler erscheint es mir jedoch angebracht, die Beurteilenden zu beurteilen. Wie Sie wissen, sind wir in Frankreich übervorsichtig; wir wagen keinen Schritt ohne einen ordnungsgemäß unterzeichneten und gegengezeichneten Paß, und wenn wir jemandem erlauben, in der Öffentlichkeit Kapriolen zu schlagen, muß er zuvor von befugten Personen genau unter die Lupe genommen worden sein.
Da freie Kunstäußerungen unvorhergesehenes und nicht wiedergutzumachendes Unheil anrichten könnten, wird am Eingang zum Allerheiligsten eine Wache aufgestellt, eine Art Zoll für das Ideal, der beauftragt ist, die Pakete zu prüfen und jegliche betrügerische Ware abzuweisen, die versuchen sollte, sich in den Tempel einzuschmuggeln.
Man möge mir einen vielleicht etwas gewagten Vergleich gestatten. Stellen Sie sich den Salon als ein riesengroßes künstlerisches Ragout vor, das uns jedes Jahr vorgesetzt wird. Jeder Maler, jeder Bildhauer schickt seine Zutat. Nun haben wir aber einen empfindlichen Magen, und man hat es für ratsam gehalten, eine ganze Schar von Köchen zu ernennen, die diese Lebensmittel von so verschiedenartigem Geschmack und Aussehen zubereiten sollen. Aus Furcht vor Verdauungsstörungen hat man den staatlichen Gesundheitshütern gesagt: »Hier sind die Zutaten zu einem köstlichen Gericht; geht sparsam mit Pfeffer um, denn Pfeffer wirkt anregend; schüttet Wasser in den Wein, denn Frankreich ist eine große Nation, die nicht den Kopf verlieren darf.«
Infolgedessen scheinen mir die Köche die Hauptrolle zu spielen. Da man uns unsere Bewunderung schmackhaft macht und uns unsere Meinungen vorkaut, haben wir auch das Recht, uns erst einmal mit jenen gefälligen Männern zu befassen, die freund(4)licherweise dafür sorgen wollen, daß wir uns nicht wie Vielfraße mit schlechtem Essen vollstopfen. Machen Sie sich etwa Gedanken über das Rind, wenn Sie ein Beefsteak essen? Sie denken nur daran, dem Küchenjungen zu danken oder ihn zu verwünschen, der es Ihnen zu durchgebraten oder nicht durchgebraten genug vorsetzt.
Es versteht sich also von selbst, daß der Salon keine umfassende und vollständige Übersicht über die französische Kunst des Jahres 1866 gibt, sondern daß er ganz gewiß eine Art Ragout ist, das von achtundzwanzig eigens für diese delikate Aufgabe ernannten Köchen zubereitet wird.
Heutzutage ist ein Salon nicht das Werk der Künstler, er ist das Werk einer Jury. Daher befasse ich mich zunächst mit der Jury, der Urheberin jener langen, fahlen Säle, in denen sich schüchternes Mittelmaß und bestohlene Berühmtheiten im grellen Licht zur Schau stellen. Bis vor kurzem war es die Académie des BeauxArts, die sich die weiße Schürze vorband und Hand anlegte. Damals war der Salon ein graues, kräftiges, immer gleiches Gericht. Man wußte im voraus, wieviel guten Willen man mitbringen mußte, um diese abgerundeten klassischen Stücke ohne einen lumpigen Winkel zu schlucken, die einen langsam, aber sicher erstickten.
Die alte Académie, diese traditionsreiche Köchin, hatte ihre eigenen Rezepte, von denen sie nie abwich; sie kochte mit unerschütterlicher Ruhe und Überzeugung; gleichgültig um welche Temperamente und Epochen es ging, richtete sie es ein, dem Publikum immer dasselbe Gericht zu servieren. Das liebe erstickende Publikum beschwerte sich schließlich: es bat um Gnade und verlangte pikantere, leichtere, in Geschmack und Aussehen appetitlichere Gerichte.
Sie erinnern sich an das Gejammer der alten Köchin Académie. Man nahm ihr die Kasserolle  weg, in der sie zwei oder drei Künstlergenerationen geschmort hatte. Man ließ sie jammern und vertraute den Pfannenstiel anderen Kochbanausen an.
Hier kommt die praktische Auffassung zum Durchbruch, die wir von Freiheit und Gerechtigkeit haben. Da die Künstler sich über die Cliquenwirtschaft der Académie beschwerten, wurde beschlossen, sie sollten ihre Jury selbst wählen. Wenn sie sich eigene strenge Richter gäben, brauchten sie sich nicht mehr zu ärgern.
(5) Doch Sie stellen sich nun womöglich vor, daß alle Maler und alle Bildhauer, alle Graveure und alle Architekten zur Wahl aufgerufen wurden. Man merkt, daß Sie Ihr Land blind lieben. Die Wahrheit ist traurig, aber ich muß gestehen, daß gerade jene die Jury ernennen, die die Jury nicht brauchen. Sie und ich, die wir eine oder zwei Medaillen in der Tasche haben, dürfen hingehen und diesen oder jenen auswählen, der uns im übrigen wenig kümmert, da er nicht berechtigt ist, unsere im voraus zum Salon zugelassenen Bilder anzusehen.
Aber der arme Teufel, dem fünf oder sechs Jahre hintereinander der Zugang zum Salon verwehrt wurde, ist nicht einmal befugt, seine Richter zu wählen und muß die über sich ergehen lassen, die wir ihm aus Gleichgültigkeit oder Kameraderie aufzwingen.
Ich möchte diesen Punkt nachdrücklich betonen. Die Jury wird nicht in allgemeiner Wahl gewählt, sondern in eingeschränkter Abstimmung, an der nur die Künstler teilnehmen dürfen, die aufgrund bestimmter Auszeichnungen von jeder Beurteilung befreit sind. Welche Garantien haben denn jene, die keine Medaillen vorzeigen können? Wie erklärt sich das: Man schafft eine Jury mit der Aufgabe, die Werke der jungen Künstler zu begutachten und anzunehmen, und man läßt diese Jury von denen ernennen, die sie nicht mehr brauchen! Zu dieser Wahl müßte man die Unbekannten, die verborgenen Arbeiter aufrufen, damit sie versuchen können, ein Tribunal ins Leben zu rufen, das sie versteht und endlich den Blicken der Masse zugänglich macht.
Ich versichere Ihnen, daß die Geschichte einer Wahl immer eine erbärmliche Geschichte ist. Die Kunst hat nichts damit zu tun: es geht hier um nichts als um menschliche Erbärmlichkeit und Dummheit. Sie ahnen bereits, was geschieht und was jedes Jahr geschehen wird. Mal wird die Clique dieses Herrn und mal die Clique jenes anderen Herrn gewinnen. Wir haben kein stabiles Ganzes mehr wie die Académie; wir haben eine große Zahl Künstler, die auf tausend verschiedene Weisen zusammengestellt werden können und so die unbarmherzigsten Schiedsgerichte mit den gegensätzlichsten und unversöhnlichsten Ansichten bilden können.
In dem einen Jahr wird der Salon ganz in Grün sein; in einem anderen Jahr ganz in Blau, und in drei Jahren werden wir ihn vielleicht ganz in Rosa sehen. Das Publikum, das beim Kochen  (6) und Anrichten der Tafel nicht dabei ist, wird die verschiedenen Salons als genaue Wiedergabe des jeweiligen gesamten Kunstschaffens ansehen. Es wird nicht erfahren, daß einzig und allein der Maler Soundso die Ausstellung gemacht hat. Es wird gutgläubig hineingehen, den Bissen schlucken und glauben, sich die gesamte Kunst des Jahres einzuverleiben.
Die Dinge müssen energisch wieder ins rechte Licht gerückt werden. Den Juroren, die im Palais de l'Industrie bisweilen eine engstirnige persönliche Idee verteidigen wollen, muß gesagt werden, daß die Ausstellungen geschaffen wurden, um den ernsthaft arbeitenden Künstlern eine breite öffentliche Darstellung zu bieten. Alle Steuerpflichtigen bezahlen dafür, und die Zugehörigkeit zu Schulen und Stilrichtungen darf die Tür nicht den einen öffnen und den anderen verschließen.
Ich weiß nicht, wie diese Juroren ihren Auftrag verstehen. Sie spotten wirklich der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Für mich ist ein Salon nie etwas anderes als die Bestandsaufnahme des Kunstschaffens. Ganz Frankreich, die »Weißseher« und die »Schwarzseher«, schicken ihre Bilder ein, um dem Publikum zu sagen: »Hier stehen wir, der Geist schreitet voran, und wir schreiten voran. Dies sind die Wahrheiten, zu denen wir seit dem letzten Jahr gelangt zu sein glauben.« Nun stellt man aber Männer zwischen die Künstler und das Publikum. Aufgrund ihrer allmächtigen Autorität zeigen sie nur ein Drittel, ein Viertel der Wahrheit; sie amputieren die Kunst und präsentieren der Menge nur deren unbrauchbaren Leichnam.
Damit diese Männer es wissen, sie sind nur da, um Mittelmäßiges und Bedeutungsloses abzuweisen. Es ist ihnen verboten, an Lebendiges oder Individuelles zu rühren. Wenn sie wollen, mögen sie - und darin besteht übrigens ihr Auftrag - Akademiestudenten, mißratene Schüler mißratender Lehrmeister ablehnen, aber sie sollen, bitte sehr, die freien Künstler achtungsvoll aufnehmen, jene, die draußen leben, die die herben, mächtigen Realitäten der Natur anderswo und anderweitig suchen.
Wollen Sie wissen, wie die diesjährige Auswahl der Jury vonstatten gegangen ist? Wie ich hörte, hat ein Kreis von Künstlern eine Liste aufgestellt, die gedruckt und in den Ateliers der wahlberechtigten Künstler herumgereicht wurde. Die Liste ist vollzählig angenommen worden.
(7) Ich frage Sie, wo bleibt der Vorteil für die Kunst bei diesen persönlichen Vorteilen? Welche Garantien hat man den jungen Kunstschaffenden gegeben? Man scheint alles für sie getan zu haben, man erklärt sie für schwierig, wenn sie nicht zufrieden sind. Das soll wohl ein Scherz sein? Aber das Problem ist ernst, und es wäre an der Zeit, einen Entschluß zu fassen.
Mir wäre es lieber, man setzte die gute alte Köchin Académie wieder ein. Bei ihr erlebt man keine Überraschungen; sie ist gleichbleibend in ihren Abneigungen und in ihren Freundschaften. Jetzt, bei diesen von einer Clique gewählten Juroren, weiß man nicht mehr aus noch ein. Wäre ich ein notleidender Maler, wäre es mein größtes Bestreben, herauszufinden, welcher Schiedsrichter wohl für meine Bilder zuständig sein würde, um seinem Geschmack entsprechend zu malen.
Abgelehnt wurden dieses Mal unter anderen Edouard Manet und Ernest-Paul Brigot, deren Gemälde in den Vorjahren angenommen worden waren. Selbstverständlich können diese Künstler nicht viel schlechter geworden sein, und ich weiß sogar, daß ihre jüngsten Bilder besser sind. Wie soll man diese Ablehnung erklären?
Mir erscheint es logisch, daß die Bilder eines Malers, die heute der Teilnahme für würdig befunden werden, morgen nicht einfach ausgeschlossen werden dürfen. Diesen Schnitzer hat sich die [Jury jedoch gerade erlaubt. Warum? Ich werde es Ihnen erklären.
Können Sie sich den Bürgerkrieg zwischen Künstlern vorstellen, die sich gegenseitig ächten? Die Mächtigen von heute würden die Mächtigen von gestern vor die Tür setzen. Das wäre ein tobendes Chaos von Ehrgeiz und Haß, eine Art kleines Rom wie zu Zeiten von Sulla und Marius. Und wir, das liebe Publikum, hätten ein Anrecht auf die Werke der siegreichen Clique. O Wahrheit, o Gerechtigkeit!
Die Académie hat ihr Urteil nie in der Weise revidiert. Sie verwehrte den Leuten zwar jahrelang den Zugang, aber sie jagte sie nicht wieder hinaus, nachdem sie sie einmal eingelassen hatte.
Gott bewahre mich davor, zu ausgiebig an die Académie zu erinnern. Sie ist nur das kleinere Übel, nichts weiter.
Ich will keineswegs Schiedsrichter aussuchen und bestimmte Künstler nennen, die unparteiische Juroren sein müßten. Edouard  (8) Manet und Ernest-Paul Brigot würden Jules Breton und Gustave Brion ebenso ablehnen, wie diese sie abgelehnt haben. Der Mensch hat seine Sympathien und Antipathien, die er nicht überwinden kann. Hier geht es jedoch um Wahrheit und Gerechtigkeit.
Soll man doch eine Jury schaffen, gleichgültig was für eine. Je mehr Fehler sie macht, je schlechter ihr ihre Sauce gelingt, um so mehr werde ich lachen. Finden Sie nicht, daß diese Männer mir ein ergötzliches Schauspiel bieten? Sie verteidigen ihre Pfründe mit tausend Finessen, die mich ungeheuer belustigen.
Aber dann soll man den sogenannten Salon des Refusés für die abgelehnten Künstler wieder einrichten. Ich bitte meine Kollegen, sich mir anzuschließen, ich möchte meinen Stimmumfang vergrößern, möchte so mächtig wie möglich sein, um die Wiedereröffnung jener Säle zu erreichen, in denen das Publikum seinerseits sowohl die Beurteilenden als auch die Abgeurteilten beurteilen konnte. Das ist augenblicklich das einzige Mittel, alle zufriedenzustellen. Die abgelehnten Künstler haben ihre Werke noch nicht wieder abgeholt; man sollte sich beeilen, irgendwo Nägel einzuschlagen und ihre Bilder aufzuhängen.
Im übrigen habe ich noch nichts gesagt. Atmen Sie noch nicht auf. All dies sind nur allgemeine Äußerungen. Ich habe die Absicht, Sie in die Küche einzuführen und Ihnen die Köche bei der Arbeit zu zeigen. Wir werden immer noch Zeit haben, das Gericht zu kosten.
Zuvor möchte ich Ihnen das Rezept verraten. Wenn Sie jemals einen solchen Salon wie den diesjährigen bekommen wollen, wissen Sie zumindest, wie Sie es anstellen müssen.
Es ist nicht schwierig, und die Zutaten kosten nicht sehr viel, denn man hat nur die allgemein üblichen Lebensmittel verwandt.
Ich verspreche Ihnen also für das nächste Mal eine Besichtigung der Küchen der Schönen Künste. 

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