Baudelaire-Delacroix
Charles Baudelaire, "Der Salon von 1846", in: Der Künstler
und das moderne Leben. Essays, "Salons", intime Tagebücher.
Leipzig 1990, S. 17-45.
2. Was ist Romantik? [...] Die Romantik liegt eigentlich weder in der
Wahl des Gegenstandes noch in der Genauigkeit der Wiedergabe, sondern
in der Art des Empfindens.
Sie haben außer sich gesucht, was nur in ihnen zu finden war.
Für mich ist die Romantik der jüngste, der aktuellste Ausdruck
des Schönen.
Es gibt ebenso viele Schönheiten, wie es Gewohnheiten gibt, das Glück
zu suchen.
Die Fortschrittsphilosophie erklärt das deutlich; es gab ebenso viele
Ideale, wie es für die Völker Arten gegeben hat, die Liebe,
die Religion usw. zu verstehen. So wird auch die Romantik nicht in einer
vollkommenen Ausführung, sondern in einer der Moral des Jahrhunderts
entsprechenden Konzeption bestehen.
Weil einige sie in die handwerkliche Vollkommenheit verlegten, habe wir
das Rokoko der Romantik gehabt, das unstreitig die unerträglichste
von allen Arten Romantik ist.
Man muß also vor allem die Seiten der Natur und die jeweilige Lage
des Menschen kennen, die die Künstler der Vergangenheit mißachtet
oder nicht gekannt haben.
Wer Romantik sagt, sagt moderne Kunst - das heißt Innerlichkeit,
Spiritualität, Farbe, Streben nach dem Unendlichen, ausgedrückt
mit allen Mitteln, die die Künste enthalten.
Daraus folgt, daß zwischen der Romantik und den Werken ihrer hauptsächlichen
Sektierer ein offener Widerspruch besteht.
Daß die Farbe in der modernen Kunst eine sehr bedeutsame Rolle spielt,
ist eigentlich kaum erstaunlich. Die Romantik ist eine Tochter des Nordens,
und der Norden ist Kolorist; Träume und Feerien sind Kinder des Nebels.
England, das Vaterland fanatischer Koloristen, Flandern, halb Frankreich
sind in Nebel getaucht; Venedig wird von Lagunen benetzt. Was die spanischen
Maler betrifft, so gestalten sie eher Kontraste, als daß sie Koloristen
wären.
Der Süden hingegen ist naturalistisch, denn die Natur ist dort so
schön und klar, daß der Mensch in seiner Wunschlosigkeit nichts
Schöneres zu bilden findet als das, was er vor Augen hat; hier die
Kunst in der freien Natur und, einige hundert Meilen nordwärts, die
tiefen Träume des Ateliers und die Blicke der Phantasie, die sich
in die grauen Horizonte verlieren.
Der Süden ist brutal und positiv wie ein Bildhauer in seinen zartesten
Kompositionen; der leidende, zweifelnde Norden tröstet sich mit der
Einbildungskraft, und wenn er Skulpturen hervorbringt, werden sie eher
pittoresk als klassisch sein. [...]
Welche neuartige Wirkung dürfen wir demnach erwarten, und welche
köstliche Romantik, wenn ein mächtiger Kolorist uns unsre teuersten
Empfindungen und Träume mit einer den Gegenständen angemessenen
Farbe wiedergibt!
[...]
4. Eugène Delacroix
[...] Bis zum heutigen Tage ist man gegen Eugène Delacroix ungerecht
gewesen. Die Kritik hat sich ihm gegenüber beleidigend und verständnislos
verhalten, und bis auf einige wenige edle Ausnahmen muß selbst das
Lob ihn oft verstimmt haben. Im allgemeinen ließ der Name Delacroix
im Geist der meisten Leute irgendwelche vagen Vorstellungen von irregeleiteter
Begeisterung, von Ungestüm, abenteuerlicher Inspiration und sogar
von Konfusion entstehen; und für diese Herren, die die Mehrheit des
Publikums bilden, spielt noch in seinen geglücktesten Kompositionen
der Zufall, als ehrenwerter, gefälliger Diener des Genies, eine große
Rolle. [...] Diese Versessenheit, um jeden Preis Parallelen und Analogien
in den verschiedenen Künsten aufzuspüren, führt oft zu
seltsamen Fehlurteilen, und auch dieses beweist, wie wenig man sich noch
verstand. Sicher mußte der Vergleich [zwischen Delacroix und Victor
Hugo] Eugène Delacroix peinlich vorkommen, vielleicht sogar allen
beiden; denn wenn meine Definition des Romantischen (Innerlichkeit, Spiritualität
usw.) Delacroix an die Spitze der Romantik stellt, so schließt sie
Victor Hugo naturgemäß aus. Die Parallele verbleibt in dem
banalen Bereich konventioneller Begriffe, und diese beiden Vorurteile
verwirren noch heute manchen Schwachkopf.[...]
[...]
[...] Der eine beginnt im Detail, der andere mit der innigen Vertiefung
in seinen Gegenstand; was zur Folge hat, daß dieser nur die Haut
greift, während der andere die Eingeweide herausreißt. Zu materiell,
zu sehr auf die Außenseite der Natur bedacht, ist Victor Hugo ein
Maler in der Dichtkunst geworden; stets seinem Ideal getreu, ist Delacroix
oftmals, ohne es zu ahnen, ein Dichter in der Malerei.
[...]
[...] Die Wirkung auf die Seele des Betrachters entspricht den Mitteln
des Künstlers. Ein Bild von Delacroix, Dante und Virgil zum Beispiel,
hinterläßt immer einen tiefen Eindruck, dessen Intensität
mit der Entfernung zunimmt. Da er stets das Detail dem Ganzen opfert und
sich scheut, seine Konzeption durch die Mühsal einer deutlicheren
und kalligraphischeren Ausführung in ihrer Lebendigkeit zu beeinträchtigen,
erfreut er sich des Vollbesitzes einer unfaßbaren Originalität,
die die innige Vertrautheit mit seinem Gegenstand ist.
[...]
Jeder der alten Meister hat sein Reich, sein Erbteil - das er oft mit
berühmten Rivalen zu teilen genötigt ist. Raffael hat die Form,
Rubens und Veronese die Farbe, Rubens und Michelangelo die zeichnerische
Phantasie. Ein Teil des Reiches blieb übrig, in das Rembrandt allein
einige Ausflüge gemacht hat - das Drama - das natürliche und
lebendige Drama, das furchtbare und melancholische Drama, das sich oft
in der Farbe, immer aber durch die Gebärde ausdrückt.
In der Erhabenheit der Gebärden hat Delacroix nur außerhalb
der Kunst Rivalen. [...]
Dieser ganz neuen, ganz modernen Qualität wegen ist Delacroix der
jüngste Ausdruck des Fortschritts in der Kunst. Erbe der großen
Tradition, das heißt der Weite, des Adels und der Prachtentfaltung
in der Komposition, und würdiger Nachfolger der alten Meister, besitzt
er über sie hinaus die Meisterschaft der Trauer, die Leidenschaft,
die Gebärde! Darin liegt in Wahrheit die Bedeutung seiner Größe.[...]
[...]
|