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Text aus: Emile Zola,
Die Salons von 1866-1896, Weinheim 1994

(3) Mein Salon

Die Jury

Der Salon von 1866 wird nicht vor dem 1. Mai seine Pforten öffnen, und erst dann wird es mir gestattet sein, ein Urteil über die Ausstellenden abzugeben.
Vor einer Beurteilung der zugelassenen Künstler erscheint es mir jedoch angebracht, die Beurteilenden zu beurteilen. Wie Sie wissen, sind wir in Frankreich übervorsichtig; wir wagen keinen Schritt ohne einen ordnungsgemäß unterzeichneten und gegengezeichneten Paß, und wenn wir jemandem erlauben, in der Öffentlichkeit Kapriolen zu schlagen, muß er zuvor von befugten Personen genau unter die Lupe genommen worden sein.
Da freie Kunstäußerungen unvorhergesehenes und nicht wiedergutzumachendes Unheil anrichten könnten, wird am Eingang zum Allerheiligsten eine Wache aufgestellt, eine Art Zoll für das Ideal, der beauftragt ist, die Pakete zu prüfen und jegliche betrügerische Ware abzuweisen, die versuchen sollte, sich in den Tempel einzuschmuggeln.
Man möge mir einen vielleicht etwas gewagten Vergleich gestatten. Stellen Sie sich den Salon als ein riesengroßes künstlerisches Ragout vor, das uns jedes Jahr vorgesetzt wird. Jeder Maler, jeder Bildhauer schickt seine Zutat. Nun haben wir aber einen empfindlichen Magen, und man hat es für ratsam gehalten, eine ganze Schar von Köchen zu ernennen, die diese Lebensmittel von so verschiedenartigem Geschmack und Aussehen zubereiten sollen. Aus Furcht vor Verdauungsstörungen hat man den staatlichen Gesundheitshütern gesagt: »Hier sind die Zutaten zu einem köstlichen Gericht; geht sparsam mit Pfeffer um, denn Pfeffer wirkt anregend; schüttet Wasser in den Wein, denn Frankreich ist eine große Nation, die nicht den Kopf verlieren darf.«

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Infolgedessen scheinen mir die Köche die Hauptrolle zu spielen. Da man uns unsere Bewunderung schmackhaft macht und uns unsere Meinungen vorkaut, haben wir auch das Recht, uns erst einmal mit jenen gefälligen Männern zu befassen, die freund(4)licherweise dafür sorgen wollen, daß wir uns nicht wie Vielfraße mit schlechtem Essen vollstopfen. Machen Sie sich etwa Gedanken über das Rind, wenn Sie ein Beefsteak essen? Sie denken nur daran, dem Küchenjungen zu danken oder ihn zu verwünschen, der es Ihnen zu durchgebraten oder nicht durchgebraten genug vorsetzt.
Es versteht sich also von selbst, daß der Salon keine umfassende und vollständige Übersicht über die französische Kunst des Jahres 1866 gibt, sondern daß er ganz gewiß eine Art Ragout ist, das von achtundzwanzig eigens für diese delikate Aufgabe ernannten Köchen zubereitet wird.
Heutzutage ist ein Salon nicht das Werk der Künstler, er ist das Werk einer Jury. Daher befasse ich mich zunächst mit der Jury, der Urheberin jener langen, fahlen Säle, in denen sich schüchternes Mittelmaß und bestohlene Berühmtheiten im grellen Licht zur Schau stellen. Bis vor kurzem war es die Académie des BeauxArts, die sich die weiße Schürze vorband und Hand anlegte. Damals war der Salon ein graues, kräftiges, immer gleiches Gericht. Man wußte im voraus, wieviel guten Willen man mitbringen mußte, um diese abgerundeten klassischen Stücke ohne einen lumpigen Winkel zu schlucken, die einen langsam, aber sicher erstickten.
Die alte Académie, diese traditionsreiche Köchin, hatte ihre eigenen Rezepte, von denen sie nie abwich; sie kochte mit unerschütterlicher Ruhe und Überzeugung; gleichgültig um welche Temperamente und Epochen es ging, richtete sie es ein, dem Publikum immer dasselbe Gericht zu servieren. Das liebe erstickende Publikum beschwerte sich schließlich: es bat um Gnade und verlangte pikantere, leichtere, in Geschmack und Aussehen appetitlichere Gerichte.
Sie erinnern sich an das Gejammer der alten Köchin Académie. Man nahm ihr die Kasserolle  weg, in der sie zwei oder drei Künstlergenerationen geschmort hatte. Man ließ sie jammern und vertraute den Pfannenstiel anderen Kochbanausen an.

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Hier kommt die praktische Auffassung zum Durchbruch, die wir von Freiheit und Gerechtigkeit haben. Da die Künstler sich über die Cliquenwirtschaft der Académie beschwerten, wurde beschlossen, sie sollten ihre Jury selbst wählen. Wenn sie sich eigene strenge Richter gäben, brauchten sie sich nicht mehr zu ärgern.
(5) Doch Sie stellen sich nun womöglich vor, daß alle Maler und alle Bildhauer, alle Graveure und alle Architekten zur Wahl aufgerufen wurden. Man merkt, daß Sie Ihr Land blind lieben. Die Wahrheit ist traurig, aber ich muß gestehen, daß gerade jene die Jury ernennen, die die Jury nicht brauchen. Sie und ich, die wir eine oder zwei Medaillen in der Tasche haben, dürfen hingehen und diesen oder jenen auswählen, der uns im übrigen wenig kümmert, da er nicht berechtigt ist, unsere im voraus zum Salon zugelassenen Bilder anzusehen.
Aber der arme Teufel, dem fünf oder sechs Jahre hintereinander der Zugang zum Salon verwehrt wurde, ist nicht einmal befugt, seine Richter zu wählen und muß die über sich ergehen lassen, die wir ihm aus Gleichgültigkeit oder Kameraderie aufzwingen.
Ich möchte diesen Punkt nachdrücklich betonen. Die Jury wird nicht in allgemeiner Wahl gewählt, sondern in eingeschränkter Abstimmung, an der nur die Künstler teilnehmen dürfen, die aufgrund bestimmter Auszeichnungen von jeder Beurteilung befreit sind. Welche Garantien haben denn jene, die keine Medaillen vorzeigen können? Wie erklärt sich das: Man schafft eine Jury mit der Aufgabe, die Werke der jungen Künstler zu begutachten und anzunehmen, und man läßt diese Jury von denen ernennen, die sie nicht mehr brauchen! Zu dieser Wahl müßte man die Unbekannten, die verborgenen Arbeiter aufrufen, damit sie versuchen können, ein Tribunal ins Leben zu rufen, das sie versteht und endlich den Blicken der Masse zugänglich macht.
Ich versichere Ihnen, daß die Geschichte einer Wahl immer eine erbärmliche Geschichte ist. Die Kunst hat nichts damit zu tun: es geht hier um nichts als um menschliche Erbärmlichkeit und Dummheit. Sie ahnen bereits, was geschieht und was jedes Jahr geschehen wird. Mal wird die Clique dieses Herrn und mal die Clique jenes anderen Herrn gewinnen. Wir haben kein stabiles Ganzes mehr wie die Académie; wir haben eine große Zahl Künstler, die auf tausend verschiedene Weisen zusammengestellt werden können und so die unbarmherzigsten Schiedsgerichte mit den gegensätzlichsten und unversöhnlichsten Ansichten bilden können.

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In dem einen Jahr wird der Salon ganz in Grün sein; in einem anderen Jahr ganz in Blau, und in drei Jahren werden wir ihn vielleicht ganz in Rosa sehen. Das Publikum, das beim Kochen  (6) und Anrichten der Tafel nicht dabei ist, wird die verschiedenen Salons als genaue Wiedergabe des jeweiligen gesamten Kunstschaffens ansehen. Es wird nicht erfahren, daß einzig und allein der Maler Soundso die Ausstellung gemacht hat. Es wird gutgläubig hineingehen, den Bissen schlucken und glauben, sich die gesamte Kunst des Jahres einzuverleiben.
Die Dinge müssen energisch wieder ins rechte Licht gerückt werden. Den Juroren, die im Palais de l'Industrie bisweilen eine engstirnige persönliche Idee verteidigen wollen, muß gesagt werden, daß die Ausstellungen geschaffen wurden, um den ernsthaft arbeitenden Künstlern eine breite öffentliche Darstellung zu bieten. Alle Steuerpflichtigen bezahlen dafür, und die Zugehörigkeit zu Schulen und Stilrichtungen darf die Tür nicht den einen öffnen und den anderen verschließen.
Ich weiß nicht, wie diese Juroren ihren Auftrag verstehen. Sie spotten wirklich der Wahrheit und der Gerechtigkeit. Für mich ist ein Salon nie etwas anderes als die Bestandsaufnahme des Kunstschaffens. Ganz Frankreich, die »Weißseher« und die »Schwarzseher«, schicken ihre Bilder ein, um dem Publikum zu sagen: »Hier stehen wir, der Geist schreitet voran, und wir schreiten voran. Dies sind die Wahrheiten, zu denen wir seit dem letzten Jahr gelangt zu sein glauben.« Nun stellt man aber Männer zwischen die Künstler und das Publikum. Aufgrund ihrer allmächtigen Autorität zeigen sie nur ein Drittel, ein Viertel der Wahrheit; sie amputieren die Kunst und präsentieren der Menge nur deren unbrauchbaren Leichnam.
Damit diese Männer es wissen, sie sind nur da, um Mittelmäßiges und Bedeutungsloses abzuweisen. Es ist ihnen verboten, an Lebendiges oder Individuelles zu rühren. Wenn sie wollen, mögen sie - und darin besteht übrigens ihr Auftrag - Akademiestudenten, mißratene Schüler mißratender Lehrmeister ablehnen, aber sie sollen, bitte sehr, die freien Künstler achtungsvoll aufnehmen, jene, die draußen leben, die die herben, mächtigen Realitäten der Natur anderswo und anderweitig suchen.
Wollen Sie wissen, wie die diesjährige Auswahl der Jury vonstatten gegangen ist? Wie ich hörte, hat ein Kreis von Künstlern eine Liste aufgestellt, die gedruckt und in den Ateliers der wahlberechtigten Künstler herumgereicht wurde. Die Liste ist vollzählig angenommen worden.

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(7) Ich frage Sie, wo bleibt der Vorteil für die Kunst bei diesen persönlichen Vorteilen? Welche Garantien hat man den jungen Kunstschaffenden gegeben? Man scheint alles für sie getan zu haben, man erklärt sie für schwierig, wenn sie nicht zufrieden sind. Das soll wohl ein Scherz sein? Aber das Problem ist ernst, und es wäre an der Zeit, einen Entschluß zu fassen.
Mir wäre es lieber, man setzte die gute alte Köchin Académie wieder ein. Bei ihr erlebt man keine Überraschungen; sie ist gleichbleibend in ihren Abneigungen und in ihren Freundschaften. Jetzt, bei diesen von einer Clique gewählten Juroren, weiß man nicht mehr aus noch ein. Wäre ich ein notleidender Maler, wäre es mein größtes Bestreben, herauszufinden, welcher Schiedsrichter wohl für meine Bilder zuständig sein würde, um seinem Geschmack entsprechend zu malen.
Abgelehnt wurden dieses Mal unter anderen Edouard Manet und Ernest-Paul Brigot, deren Gemälde in den Vorjahren angenommen worden waren. Selbstverständlich können diese Künstler nicht viel schlechter geworden sein, und ich weiß sogar, daß ihre jüngsten Bilder besser sind. Wie soll man diese Ablehnung erklären?
Mir erscheint es logisch, daß die Bilder eines Malers, die heute der Teilnahme für würdig befunden werden, morgen nicht einfach ausgeschlossen werden dürfen. Diesen Schnitzer hat sich die [Jury jedoch gerade erlaubt. Warum? Ich werde es Ihnen erklären.
Können Sie sich den Bürgerkrieg zwischen Künstlern vorstellen, die sich gegenseitig ächten? Die Mächtigen von heute würden die Mächtigen von gestern vor die Tür setzen. Das wäre ein tobendes Chaos von Ehrgeiz und Haß, eine Art kleines Rom wie zu Zeiten von Sulla und Marius. Und wir, das liebe Publikum, hätten ein Anrecht auf die Werke der siegreichen Clique. O Wahrheit, o Gerechtigkeit!
Die Académie hat ihr Urteil nie in der Weise revidiert. Sie verwehrte den Leuten zwar jahrelang den Zugang, aber sie jagte sie nicht wieder hinaus, nachdem sie sie einmal eingelassen hatte.
Gott bewahre mich davor, zu ausgiebig an die Académie zu erinnern. Sie ist nur das kleinere Übel, nichts weiter.
Ich will keineswegs Schiedsrichter aussuchen und bestimmte Künstler nennen, die unparteiische Juroren sein müßten. Edouard  (8) Manet und Ernest-Paul Brigot würden Jules Breton und Gustave Brion ebenso ablehnen, wie diese sie abgelehnt haben. Der Mensch hat seine Sympathien und Antipathien, die er nicht überwinden kann. Hier geht es jedoch um Wahrheit und Gerechtigkeit.
Soll man doch eine Jury schaffen, gleichgültig was für eine. Je mehr Fehler sie macht, je schlechter ihr ihre Sauce gelingt, um so mehr werde ich lachen. Finden Sie nicht, daß diese Männer mir ein ergötzliches Schauspiel bieten? Sie verteidigen ihre Pfründe mit tausend Finessen, die mich ungeheuer belustigen.

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Aber dann soll man den sogenannten Salon des Refusés für die abgelehnten Künstler wieder einrichten. Ich bitte meine Kollegen, sich mir anzuschließen, ich möchte meinen Stimmumfang vergrößern, möchte so mächtig wie möglich sein, um die Wiedereröffnung jener Säle zu erreichen, in denen das Publikum seinerseits sowohl die Beurteilenden als auch die Abgeurteilten beurteilen konnte. Das ist augenblicklich das einzige Mittel, alle zufriedenzustellen. Die abgelehnten Künstler haben ihre Werke noch nicht wieder abgeholt; man sollte sich beeilen, irgendwo Nägel einzuschlagen und ihre Bilder aufzuhängen.
Im übrigen habe ich noch nichts gesagt. Atmen Sie noch nicht auf. All dies sind nur allgemeine Äußerungen. Ich habe die Absicht, Sie in die Küche einzuführen und Ihnen die Köche bei der Arbeit zu zeigen. Wir werden immer noch Zeit haben, das Gericht zu kosten.
Zuvor möchte ich Ihnen das Rezept verraten. Wenn Sie jemals einen solchen Salon wie den diesjährigen bekommen wollen, wissen Sie zumindest, wie Sie es anstellen müssen.
Es ist nicht schwierig, und die Zutaten kosten nicht sehr viel, denn man hat nur die allgemein üblichen Lebensmittel verwandt.
Ich verspreche Ihnen also für das nächste Mal eine Besichtigung der Küchen der Schönen Künste. 

(9)Ich werde von allen Seiten aufgefordert, offen zu sprechen, die Namen der verdienten Künstler zu nennen, die von der Jury abgelehnt worden sind.

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Das Publikum wird also immer das gute Publikum sein. Selbstverständlich sind die vom Salon abgewiesenen Künstler vorläufig noch die berühmten Maler von morgen, und ich könnte hier nur Namen angeben, die meinen Lesern unbekannt sind. Ich beschwere mich gerade über diese befremdenden Urteile, durch die ernsthafte junge Leute, deren einziger Fehler darin besteht, nicht so zu denken wie ihre Berufskollegen, zu einem jahrelangen Schattendasein verurteilt werden. Man muß annehmen, daß alle Persönlichkeiten wie Delacroix und die anderen uns durch die Entscheidungen gewisser Cliquen lange vorenthalten blieben. Ich möchte nicht, daß sich das wiederholt, und ich will mit diesen Artikeln in erster Linie erreichen, daß die Künstler, die mit Sicherheit die Meister von morgen sein werden, nicht die Verfolgten von heute sind.
Eugène Delacroix, Medea 
tötet ihre Kinder, 1862

Ich behaupte geradeheraus, daß die diesjährige Jury eine vorgefaßte Meinung hatte. Eine ganze Richtung der zeitgenössischen französischen Kunst ist uns absichtlich vorenthalten worden. Ich habe Edouard Manet und Ernest-Paul Brigot erwähnt, weil sie bereits bekannt sind; ich könnte zwanzig weitere nennen, die derselben künstlerischen Bewegung angehören. Das bedeutet, daß die Jury keine starken, lebendigen Gemälde wollte, keine Studien aus dem vollen Leben und aus der vollen Realität.

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Edouard Manet, Das Frühstück 
im Freien, 1863


Edouard Manet, Olympia, 1865

Ich weiß wohl, daß ich die Lacher nicht auf meiner Seite haben werde. In Frankreich wird gern gelacht, und ich schwöre Ihnen, daß ich noch lauter lachen werde als die anderen. Wer zuletzt lacht, lacht am besten.

Hiermit mache ich mich zum Verteidiger der Realität. Ich gestehe in aller Ruhe, daß ich Edouard Manet bewundern werde, ich erkläre, daß ich von Alexandre Cabanels süßlich gepuderten Bildern wenig Aufhebens mache und daß mir die herben, gesunden Gerüche der wirklichen Natur lieber sind. Im übrigen wird jedes meiner Urteile zu seiner Zeit kommen. An dieser Stelle möchte ich lediglich feststellen - und niemand wird es wagen, (10) dies in Abrede zu stellen -, daß die Realismus genannte Bewegung im Salon nicht vertreten sein wird

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Alexandre Cabanel, Geburt der 
Venus, 1865

 
 


Gustave Courbet, Felsige Landschaft
in der Umgebung von Flagey, 1855

Mir ist wohl bekannt, daß Gustave Courbet dabei sein wird. Doch Courbet ist anscheinend zum Feind übergelaufen. Man soll Abgesandte zu ihm geschickt haben, denn der Meister von Ornans ist ein schrecklicher Rabauke, den man zu beleidigen fürchtet, und ihm sollen Titel und Ehrungen versprochen worden sein, wenn er so gut sein wollte, seine Schüler zu verleugnen. Es wird von der Goldmedaille und sogar vom Kreuz der Ehrenlegion gemunkelt. Am nächsten Tag begab sich Courbet zu Brigot, seinem Schüler, und erklärte ihm barsch, »er vertrete nicht die Philosophie seiner Malerei«. Die Philosophie von Courbets Malerei! O teurer Meister, Proudhons Buch ist Ihnen als Demokrat nicht bekommen. Bleiben Sie um Gottes willen der bedeutendste Maler unserer Zeit, werden Sie weder Moralist noch Sozialist!

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Gustave Courbet, Rast der Rehe, 1866





 Gustave Courbet, Frau mit Papagei, 1866

Wie gleichgültig sind heute übrigens meine Sympathien! Ich, das Publikum, beschwere mich über die Einschränkung meiner Meinungsfreiheit. Ich, das Publikum, bin verärgert, weil man mir die künstlerische Bewegung nicht vollständig darbietet. Ich, das Publikum, verlange, daß nichts vor mir verborgen wird, ich strenge gerechter- und rechtmäßigerweise einen Prozeß gegen die Künstler an, die mit vorgefaßter Meinung eine ganze Gruppe von Kollegen aus dem Salon vertrieben haben.

Mein erster Artikel hat berechtigte empfindliche Reaktionen hervorgerufen. Nicht die gesamte Jury ist schuldig. Daher werde ich mein Versprechen halten, Sie in das Allerheiligste einzuführen, Ihnen die Juroren bei der Arbeit zu zeigen, um jedem von ihnen seinen gerechten Anteil an der Aufgabe zu gewähren.

Ist zudem der Evénement nicht die Zeitung der Indiskretionen, die Zeitung, die alles weiß, was vorgeht, und die ihre Leser in die Theater der verschiedenen Welten einführt, noch ehe der Vorhang sich gehoben hat? Meine Leser mögen sich daher bitte in das Palais de l’Industrie bemühen.

Keine Versammlung, keine Vereinigung von Menschen, die gemeinsam irgendwelche Entscheidungen treffen sollen, ist eine bloße Maschine, die sich, von einer einzigen Feder angetrieben, in eine Richtung dreht. Eine subtile Untersuchung ist nötig, um jede Bewegung, jede Drehung des Rades zu erklären. Der gewöhnliche Mensch sieht nur das erreichte Ergebnis; der Beobachter bemerkt (11) die Zuckungen und Sprünge, von der die Maschine geschüttelt wird.

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Ich will versuchen, die Jury Stück für Stück auseinanderzunehmen, ihren Mechanismus zu erklären, das Funktionieren ihrer Triebfedern verständlich zu machen. Da der Salon ihr Werk ist, sagte ich, ist es notwendig, diesen unpersönlichen und vielfachen Urheber in jedem seiner Teile kennenzulernen.

Camille Corot, Das Atelier des
Künstlers, 1865

Die Jury besteht aus achtundzwanzig Mitgliedern, die ich der Reihenfolge der Abstimmung nach aufführen will: von den mit Medaillen ausgezeichneten Künstlern ernannte Mitglieder: die Herren Gérome, Cabanel, Pils, Bida, Meissonier, Gleyre, Français, Corot, Robert Fleury, Breton, Hébert, Dauzats, Brion, Daubigny, Barrias, Dubufe, Baudry. Ersatzmitglieder: die Herren Isabey, de Lajolais, Théodore Rousseau. Von der Académie-Verwaltung ernannte Mitglieder: die Herren Cottier, Théophile Gautier, Lacaze, der Marquis Maison, Reiset, Paul de Saint-Victor, Alfred Arago.

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Charles Daubigny, Ufer der Themse, 1866

Ich möchte eiligst betonen, daß ich die Verwaltung aus der ganzen Angelegenheit ausklammere. Hier geht es einzig um einen künstlerischen Streit, und mir geht es nicht um die Beteiligung all jener, die keinen Pinsel in der Hand halten. Ich begnüge mich damit, Paul de Saint-Victor und vor allem Théophile Gautier darauf aufmerksam zu machen, daß sie reichlich streng über junge Leute geurteilt haben, deren einzige Missetat darin besteht, neue Wege auszuprobieren. Erinnert sich Théophile Gautier, der im Moniteur zu Ehren der von ihm angenommenen Gemälde ein so hübsches Feuerwerk abbrennt, denn nicht an 1830, als er seine berühmte rote Weste trug? Ach, ich weiß, wir sind nicht mehr bei den roten Westen, wir sind beim nackten, lebendigen Fleisch, und ich verstehe die ganze Angst eines unverbesserlichen alten Romantikers, der seine Götter entschwinden sieht.

Damit verbleiben einundzwanzig Rädchen in der Maschine. Es folgt die Beschreibung jedes dieser Rädchen und die Erklärung ihrer Arbeitsweise.

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LEON GEROME: Ein sehr listiger, gerissener Juror. Er hat wohl gemerkt, welch erbärmliches Geschäft da bevorstand und ist einen Tag vor Beginn der Sitzungen nach Spanien entflohen, von wo er genau einen Tag nach deren Ende zurückkehrte. Dieses (12) umsichtige, weise Verhalten hätten alle Juroren nachahmen sollen. Dann hätten wir wenigstens eine vollständige Ausstellung gehabt.


Leon Gérome
, Cäsar und Kleopatra,
1866

ALEXANDRE CABANEL: Ein mit Ehrungen überhäufter Künstler, der alle ihm verbleibenden Kräfte darauf verwendet, seinen Ruhm zu tragen und ständig damit beschäftigt ist, daß keiner seiner Lorbeeren zu Boden fällt, so daß er keine Zeit hat, bösartig zu sein. Wie man mir versichert, hat er viel Milde und Nachsicht gezeigt. Wie man mir erzählte, hat ihn die Goldmedaille, die er sich voriges Jahr selbst verliehen hat, beinah erstickt: er ist noch ganz verschämt, wie ein Vielfraß, der sich in der Öffentlichkeit überfressen hat

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ISIDORE PILS: Er erstickt weniger als Alexandre Cabanel und hält sich für standfest genug, als daß er versuchen würde, die anderen umzuwerfen.

Isidore Pils, Belagerung von Sebastopol, 
1855

ERNEST MEISSONIER: Nichts dauert anscheinend so lange, wie Männchen zu malen, denn der offizielle Maler von Lilliput, der homöopathische Maler mit den verschwindend kleinen Dosen, hat fast alle Sitzungen versäumt. Allerdings wurde mir gesagt, Monsieur Meissonier habe an der Beurteilung der Künstler mitgewirkt, deren Name mit M anfängt.

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Ernest Meissonier, Auf einem 
Belvedere, 1867
ALEXANDRE BIDA: Dieser Zeichner wurde wahrscheinlich gewählt, um die Zeichner zu beurteilen, da er als Maler nie reüssiert hat. Monsieur Bidaverteidigt die Prinzipien.

CHARLES GLEYRE: Dieser Maler, der im vorigen Jahr Letzter auf der Jurorenliste war, steht dort in diesem Jahr an sechster Stelle. Dieses Votum hat eine Legende.
Ein bestimmter Malerzirkel, den ich erwähnt habe und noch erwähnen werde, war tiefbetrübt, berichtet die Legende, daß Monsieur Gleyre, ein so würdiger, so verdienter Künstler wie Monsieur Gleyre als Letzter auf der Liste stand.

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Charles Gleyre, Das Bad, 1868
Eines Tages bot ein Mitglied des Zirkels ihm an, ihm einen ausgezeichneten Platz zu geben, unter der Bedingung, daß all lene, die für ihn votierten, gleichzeitig für Edouard Dubufe votierten. Und so kommt es, daß Charles Gleyre Sechster auf der Liste ist, so kommt es, daß Edouard Dubufe zum ersten Mal die Ehre hat, der Jury anzugehören. Wie gesagt ist dies nur eine Legende.   


Jean-Auguste-Dominique 
Ingre
s, Große Odaliske, 1814

(13) Im übrigen hat sich der Meister, dessen Schüler heute aufbegehren, vortrefflich verhalten. Sie wissen ja, daß der König nie der größte Royalist ist. Vielleicht hat Charles Gleyre sich an eine schreckliche Lektion erinnert, die Jean-Auguste Ingres ihm, wie die Chronik wissen will, im Schloß von Dampierre erteilt haben soll, wo die beiden Künstler Fresken im selben Saal malen mußten. Als Ingres eintraf, um sich ans Werk zu machen, soll er verlangt haben, daß die beiden von Gleyre bereits ausgeführten Fresken übertüncht würden, da er in einer solchen Umgebung nicht arbeiten könne.

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Charles Gleyre, Minerva und die
drei Grazien, 1866

FRANÇOIS-LOUIS FRANÇAIS: Er weiß selbst nicht genau, ob er Realist oder Idealist ist. Er malt heilige Haine und die Wäldchen von Meudon. Man versichert mir, er habe mit recht kraftvoll gemalten und weithin gut aufgenommenen Landschaften debütiert. Ich kenne von ihm nur reichlich verwaschene Aquarelle. Er muß den ungestümen Temperamenten gegenüber sehr streng gewesen sein.

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François-Louis Français, Heiliger
Wald, 1864
EUGÈNE FROMENTIN: Ein enger Freund von Alexandre Bida. Er ist in Afrika gewesen und hat köstliche Uhrenmotive von dort mitgebracht. Seine Beduinen sind zum Ablecken sauber. All diese lieblichen Künstler, die von Träumen und Träumereien leben, überfällt ein heiliger Schrecken, wenn sie Gemälde sehen, die sie an die Natur erinnern, welche sie für zu schmutzig erklärt haben.
Eugène Fromentin, Falkenjagd
in Algier, 1862

CAMILLE COROT: Ein Künstler von großem Talent. Ich werde mich später mit ihm auseinandersetzen. Er hat die Bilder, die ihm eigentlich hätten gefallen müssen, lustlos verteidigt. Um sein Verhalten in der Jury zu erklären, greife ich auf eine Anekdote zurück. Es war im vergangenen Jahr, als die Medaillen verteilt wurden. Einige Juroren begeisterten sich für eine Landschaft von François-Henri Nazon und bemühten sich eifrig um Monsieur Corots Stimme. Schließlich sagte dieser müde: »Ich bin ein guter Junge, geben wir ihm eine Medaille, aber ich gebe zu, daß ich dieses Bild nicht im geringsten verstehe.«

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Camille Corot, Einsamkeit (Erinnerung
an Vigen (Limousin), 1866 (Reproduk-
tion aus der Gazette des Beaux-Arts)

ROBERT FLEURY: Ein Überrest aus der Romantik, der es erreicht hat, in die Jury aufgenommen zu werden, indem er seinen Wein mit Wasser verdünnt hat. Jeder neuen Richtung abhold. Er (14) gab seine Urteile für den Salon ab, doch sein eigentlicher Platz seit einem Monat war Rom, wo er als Nachfolger von Jean-Victor Schnetz zum Direktor unserer Kunstschule ernannt worden ist. Wenn man bedenkt, daß Léon Gérome keinen Vorwand hatte und entflohen ist und daß Robert Fleury einen Vorwand hatte und geblieben ist! Wie Sie sehen, gibt es Männer, die unerschütterlich ihre Pflicht erfüllen. Mir wurde gesagt, daß Robert Fleurys Sohn dieses Jahr ausstellt und daß er zweifellos eine der vierzig Medaillen bekommen wird.

 

 

 

 

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Leon Gérome, Tor der Moschee 
von El-Assaneyn in Kairo, 
wo die Köpfe der Beys 
ausgestellt waren,die von 
Salek-Kachef geopfert wurden, 
1866


Joseph-Nicholas Robert-Fleury
Galilei vor der Inquisition im 
Vatikan, 1847

JULES BRETON: Ein junger, streitbarer Maler. Angesichts der Gemälde von Edouard Manet soll er ausgerufen haben: »Wenn wir das annehmen, sind wir verloren.« Wer, wir? Jules Breton hat es mit den Bäuerinnen, die Lélia  lesen und nachts, in die Betrachtung des Mondes versunken, Verse schmieden. Wie man hört, wird die Vornehmheit seiner Figuren geschätzt. Deshalb legt er Wert darauf, keinen einzigen wirklichen Bauern in den Salon einzulassen. In diesem Jahr hat er dessen Eingang bewacht und erbarmungslos alles abgewiesen, was den üblen Geruch nach Erde ausströmte.
Jules Breton, Rückkehr der Ährenleserinnen,
1859

ERNEST HEBERT: Ein Künstler, der Fieber zu haben scheint. Von zu krankhafter Anmut, als daß er auf gutem Fuße mit den gesunden Realitäten stehen könnte.

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ADRIEN DAUZATS: Gründungsmitglied der Jury. Seine Beiträge in seinen langen Dienstjahren sind jedoch weder sehr zahlreich noch sehr brillant. Er hat so abgestimmt wie die anderen, das ist alles, was ich weiß.
Adrien Dauzats, Das Katharinen-
kloster auf dem Berg Sinai, 1845

GUSTAVE BRION: Der Kumpan von Jules Breton. Die beiden waren Anführer der Kampagne. Ist es nicht traurig zu sehen, wie noch junge, erst seit gestern bekannte Kunstschaffende jenen, die den Erfolg auf anderem Wege suchen, die Tür lautstark vor der Nase zuknallen? Gustave Brion hat es selbst jemandem gegenüber zugegeben, dessen Namen ich, wenn nötig, nennen werde. Auf die Haltung der Jury angesprochen, sagte er: »Ja, es gab so etwas wie eine vorgefaßte Meinung.« Wenn man eine solche Erklärung hört, müßte man dann die Urteile eines Tribunals, das seine Parteilichkeit selbst zugibt, nicht für ungültig erklären?

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(15) CHARLES DAUBIGNY: Ihn kann ich gar nicht genug loben. Er hat sich wie ein Künstler und wie ein beherzter Mann benommen. Er hat als einziger im Namen der Wahrheit und der Gerechtigkeit gegen manche seiner Kollegen angekämpft.

Charles Daubigny, Morgenstimmung, 1866

»Wir dürfen nur die Unbedeutenden und Mittelmäßigen ablehnen«, sagte er. »Die starken Persönlichkeiten, all jene, die suchen und arbeiten, müssen wir annehmen.«
Ein schöner Ausspruch, der das einzige Gesetz dieses Künstlertribunals, das über Künstler urteilt, sein sollte. Charles Daubignys Bemühungen sind vereitelt worden, er wurde bei allen Abstimmungen geschlagen. Zwei- oder dreimal hat er angesichts der unglaublichen Entscheidungen seiner Kollegen von Rücktritt gesprochen.

FELIX-JOSEPH BARRIAS: Ein ausgezeichneter Mann. Er hat sich darauf beschränkt, so abzustimmen wie die anderen.

EDOUARD DUBUFE: Er ist als Siebzehnter nominiert worden, damit Charles Gleyre auf den sechsten Platz vorrücken konnte, wie die Legende sagt, die ich weiter oben erzählt habe. Edouard Dubufe hat in den Chor der Herren Breton und Brion eingestimmt. Angesichts von Edouard Manets Bild Der Pfeifer wäre er fast in Ohnmacht gefallen und hat folgende derbe Drohung von sich gegeben: »Solange ich der Jury angehöre, werde ich solche Bilder nicht annehmen.«

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PAUL BAUDRY: Dieser Künstler ist über seine letzten Mißerfolge höchst verärgert. Eine eigenartige Idee, ihn mit der Förderung anderer zu beauftragen.
Paul Baudry, Charlotte Corday, 
1861

JEAN-BAPTISTE ISABEY: Ein Romantiker, der sich in unsere Zeit verirrt hat. Wie es sich gehört, ist er seinen Göttern treu geblieben und betrachtet es als seine Pflicht, alle neuen Götter mit Steinen zu bewerfen.

(16) MONSIEUR DE LAJOLAIS: Was für ein Monsieur de Lajolais? Das fragen Sie sich, wie ich es mich selbst gefragt habe. Forschen Sie nicht nach, Sie werden nichts finden, und außerdem habe ich es übernommen, für Sie nachzuforschen. Verzeihen Sie mir bitte, daß ich dem unbekanntesten der Juroren den breitesten Platz einräume. Der Fall ist kurios und lohnt wirklich der Mühe.

Monsieur de Lajolais - es gibt nämlich tatsächlich einen Monsieur de Lajolais -, ist ein Schüler von Charles Gleyre. Sein einziges künstlerisches Gepäck sind eine 1864 ausgestellte Landschaft und eine 1865 ausgestellte Landschaft. Darüber hinaus hat er die Gedenkausstellung an der Place Royale organisiert. Das sind seine Auszeichnungen. Aber ich vergaß die wichtigste: Anscheinend verdanken wir ihm die in Zusammenhang stehenden Ernennungen von Charles Gleyre und Edouard Dubufe.

Als er dergestalt die Stimmen seiner Kollegen mit geschickter Hand verteilte, sind einige dieser Stimmen in seinen Händen verblieben. Er ist in die Masse übergegangen und wurde ernannt.

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1863 wurden Monsieur de Lajolais' Bilder von der Académie abgelehnt. Wie finden es die Herren Cabanel, Robert Fleury, Meissonier, Mitglieder der Académie, daß ein junger Mann, den sie vor kurzer Zeit noch des Salons für unwürdig befanden, heute ihr Kollege ist?
Zweifellos werden Sie wie ich denken, daß dieser unbekannte, wer weiß wie und warum ernannte Schiedsrichter zu Nachsicht verpflichtet war. Nun hat Monsieur de Lajolais aber vor Zeugen damit geprahlt, daß er seine Stimme nur dreihundert Gemälden gegeben hat - und der Salon wird ungefähr viertausend zeigen.

Ernest Meissonier, Napoleon im Jahr 1814,
1863

Verstehen Sie die Rolle dieses gestern Abgelehnten, der all seine Kameraden vor die Tür setzt?

Es bleibt mir nur, an einen Satz aus dem Brief zu erinnern, den der Comte de Nieuwerkerke  uns die Ehre erwiesen hat zu schreiben: »Die Jury«, heißt es dort, »ist eine Versammlung begabter Männer, auf die Frankreich mit Recht stolz sein kann... « Pardon, Monsieur le Comte, ist Monsieur de Lajolais einer dieser begabten Männer, auf die ich mit Recht stolz sein kann? Ich versichere Ihnen, daß ich dieses Recht in dem Fall niemals mißbrauchen werde.

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THEODORE ROUSSEAU: Ein eingefleischter Romantiker. Er ist zehn Jahre lang abgelehnt worden, er vergilt Härte mit Härte. Man schilderte ihn mir als einen, der am verbissensten gegen die Realisten ankämpfte, deren Großcousin er doch ist.
Theodore Rousseau, Eine Lichtung
im Wald von Fontainebleau, 1862

Nun liegt die Maschine auseinandergenommen vor ihren Augen. Sie können jedes Rädchen zur Kenntnis nehmen und sie sogar zwangloser studieren, als ich es hier tun konnte. 
(17) Sollen wir die Maschine aufziehen und sie ein wenig laufen lassen?

Dann wollen wir die Rädchen vorsichtig aufnehmen - die kleinen und die großen, diejenigen, die sich linksherum drehen und diejenigen, die sich rechtsherum drehen -, wollen sie zusammensetzen und das fertige Werk ansehen. Die Maschine quietscht hin und wieder, manche Teile laufen hartnäckig nach ihrem Belieben; aber insgesamt funktioniert das Ganze harmonisch. Wenn auch nicht alle Rädchen von derselben Feder angetrieben werden, so greifen sie doch ineinander und arbeiten gemeinsam an derselben Aufgabe.

Da sind die guten Jungen, die gleichmütig ablehnen und annehmen; da sind die arrivierten Leute, die über den Kämpfen stehen; da sind die Künstler der Vergangenheit, die an ihren Anschauungen festhalten, die alle neuen Versuche verneinen; schließlich sind da die Künstler der Gegenwart, jene, deren kleine Manier einen kleinen Erfolg hat und die diesen Erfolg zwischen den Zähnen halten und jeden in die Nähe kommenden Kollegen drohend anknurren.

Das Ergebnis, das dabei herauskommt, kennen Sie ja: jene ach so leeren und so öden Säle, die wir gemeinsam besichtigen werden. Ich weiß wohl, daß ich unsere künstlerische Armut der Jury nicht als Verbrechen zur Last legen kann. Aber ich kann von ihr Rechenschaft über alle wagemutigen Künstler, die sie entmutigt, verlangen

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Mittelmäßiges wird angenommen. Die Wände werden mit biederen und völlig unbedeutenden Gemälden gepflastert. Sie können von oben nach unten, kreuz und quer schauen: nicht ein Bild, das einen schockiert, nicht ein Bild, das einen anzieht. Man hat die Kunst gesäubert, man hat sie sorgfältig gestriegelt; ein braver Bürger in Pantoffeln und weißem Hemd.
Zu diesen mit unbekannten Namen signierten biederen Gemälden kommen die von jeder Überprüfung befreiten Bilder hinzu. Sie sind das Werk der Maler, die ich studieren und besprechen werde.

In diesem Jahr war das Sauberkeitsbedürfnis der Jury noch heftiger. Sie befand, daß der idealisierende Besen im letzten Jahr einige Strohhalme auf dem Parkett vergessen hatte. Sie wollte reinen Tisch machen und hat alle Realisten vor die Tür gesetzt, Leute, (18) die beschuldigt werden, sich die Hände nicht zu waschen. Die schönen Damen werden den Salon in großer Garderobe besichtigen; alles wird sauber und hell sein wie ein Spiegel. Man wird sich in den Gemälden frisieren können.
Es beglückt mich, diesen Artikel mit dem Hinweis an die Juroren zu beenden, daß sie schlechte Zöllner sind. Der Feind ist vor Ort, darauf mache ich sie aufmerksam. Ich spreche nicht von den paar guten Bildern, die sie aus Versehen angenommen haben. Ich möchte lediglich sagen, daß Monsieur Brigot, gegen den die schärfsten Vorsichtsmaßnahmen getroffen wurden, dennoch zwei Studien im Salon zeigen wird, Suchen Sie gut, sie hängen unter B, allerdings mit einem anderen Namen signiert.

Daher rate ich Euch jungen Künstlern, nehmt, wenn Ihr nächstes Jahr angenommen werden wollt, nicht das Pseudonym Brigot, nehmt Barbanchu. So könnt Ihr sicher sein, einstimmig angenommen zu werden. Anscheinend ist es tatsächlich eine bloße Frage des Namens.

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Der künstlerische Augenblick.
Ehe ich das kleinste Urteil fällte, hätte ich vielleicht kategorisch die Art meiner Kunstbetrachtung, meine Ästhetik erklären sollen. Ich weiß, daß die notgedrungen verkürzten Ansichten, die ich beiläufig geäußert habe, ein Schlag ins Gesicht der geltenden Meinungen waren und daß man mir diese offenherzigen, scheinbar durch nichts bewiesenen Behauptungen übelnimmt.Wie jeder andere habe ich meine eigene kleine Theorie, und wie jeder andere halte ich meine Theorie für die einzig richtige. Auf die Gefahr hin, nicht unterhaltsam zu sein, werde ich Ihnen diese Theorie darlegen, aus der sich meine Vorlieben und Abneigungen ganz natürlich ergeben.
Für das Publikum - und ich gebrauche das Wort hier nicht im schlechten Sinn - ist ein Kunstwerk, ein Gemälde etwas Liebliches, was das Herz bewegt oder aufwühlt; es ist ein Blutbad, wenn die zuckenden und stöhnenden Opfer sich vor den Gewehren, die sie bedrohen, wälzen, oder es ist ein bezauberndes, blütenreines junges Mädchen, das im Mondenschein auf einen Säu(19)lenstumpf gestützt träumt. Ich will damit sagen, daß die Menge in einem Bild nur ein Motiv sieht, das sie bei der Kehle packt oder ihr Herz ergreift, und daß sie vom Künstler nichts anderes verlangt als eine Träne oder ein Lächeln.Für mich - für viele Menschen, will ich hoffen - ist ein Kunstwerk hingegen eine Persönlichkeit, eine Individualität.
Ich verlange vom Künstler nicht, daß er mich rührt oder mir schaurige Alpträume beschert, sondern daß er sich selbst mit Haut und Haaren preisgibt, daß er laut und deutlich einen großen, originellen Geist, eine starke, entschiedene Natur zur Geltung bringt, die sich die Natur umfassend zu eigen macht, und daß er diese, so wie er sie sieht, vor uns hinstellt. Mit einem Wort, ich empfinde tiefste Verachtung für belanglos Fingerfertiges, für gezielt Schmeichelhaftes, für im Studium Erlerntes und durch zähes Arbeiten vertraut Gewordenes, für all die theatralischen Historiengemälde dieses Herrn und für all die parfümierten Träumereien jenes Herrn. Doch ich empfinde tiefste Bewunderung für individuelle Werke, die mit einem Wurf aus einer kraftvollen, einzigartigen Hand kommen.
Es geht hier also nicht um Gefallen oder Nichtgefallen; es geht darum, man selbst zu sein, sein unverhülltes Herz zu zeigen, energisch eine Persönlichkeit auszudrücken.
Ich bin für keine Schule, weil ich für die menschliche Wahrheit bin, die jegliche Cliquenwirtschaft und jegliches System ausschließt. Das Wort »Kunst« mißfällt mir; es enthält irgendwelche Vorstellungen von notwendigen Maßregeln, von einem absoluten Ideal. Kunst schaffen, heißt das nicht etwas schaffen, was außerhalb des Menschen und der Natur ist? Ich möchte, daß man Leben schafft; ich möchte, daß man lebendig ist, daß man wieder schöpferisch arbeitet, abseits von allem, den eigenen Augen und dem eigenen Temperament entsprechend. Was ich vor allem in einem Gemälde suche, ist ein Mensch und nicht ein Gemälde.

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Meiner Ansicht nach gibt es in einem Werk zwei Elemente: das Element des Wirklichen, die Natur, und das Element des Individuellen, den Menschen. Das Element des Wirklichen, die Natur, ist unveränderlich, immer gleich; es existiert für alle auf die gleiche Weise; ich würde sagen, es könnte allen erschaffenen Werken als gemeinsames Maß dienen, wenn ich annähme, daß es dabei ein gemeinsames Maß geben könnte.(20) Das Element des Individuellen hingegen, der Mensch, ist unbegrenzt veränderlich; es gibt ebensoviele verschiedene Werke wie es verschiedene Geister gibt: wenn das Temperament nicht wäre, müßten alle Bilder zwangsläufig bloße Photographien sein.
Ein Kunstwerk ist also immer nur das Zusammenwirken eines Menschen, des veränderlichen Elements, und der Natur, des unveränderlichen Elements. Das Wort »realistisch« bedeutet für mich nichts, da ich das Reale dem Temperament unterordne. Erschafft Wahres, und ich applaudiere; erschafft vor allem Individuelles und Lebendiges, und ich applaudiere noch lauter. Wenn Ihr von diesem Prinzip abweicht, seid Ihr gezwungen, die Vergangenheit zu leugnen und Definitionen zu erfinden, die Ihr jedes Jahr erweitern müßtet.Es ist nämlich ein anderer guter Scherz zu glauben, es gebe, was das Kunstschöne betrifft, eine absolute, ewige Wahrheit. Für uns, die wir uns jeden Morgen eine Wahrheit zurechtmachen, die wir bis zum Abend aufgebraucht haben, gibt es nicht nur eine volle und ganze Wahrheit. Wie jedes Ding ist die Kunst ein menschliches Produkt, eine menschliche Absonderung; die Schönheit unserer Werke wird von unserem Körper aus geschwitzt. Unser Körper verändert sich je nach dem Klima und je nach den Sitten, und im gleichen Maße verändert sich die Absonderung.Das bedeutet, daß das Werk von morgen nicht das von heute sein kann. Ihr könnt keine Regel aufstellen und keine Vorschrift angeben; Ihr müßt Euch beherzt Eurer Natur überlassen und nicht danach trachten, Euch zu belügen. Ihr, die Ihr mühselig tote Sprachen zu entziffern sucht, habt Ihr etwa Angst, in Eurer eigenen Sprache zu sprechen?
Meine energische Forderung lautet: keine Werke von Schülern nach Vorbildern der Meister. Derartige Werke erinnern mich an die Schreibübungen, die ich als Kind aus vor mir liegenden lithographierten Vorlagen abmalte. Ich will keine Rückwendungen in die Vergangenheit, keine sogenannten Renaissancen, keine Gemälde, die einem Ideal entsprechen, das man sich aus allen Epochen zusammengesucht hat. Ich will all das nicht, was nicht Leben, Temperament, Realität ist!
Und nun bitte ich Sie, haben Sie Mitleid mit mir. Bedenken Sie, was ein Temperament wie das meine gestern in der allumfassenden trübsinnigen Nichtigkeit des Salons erleiden mußte. Ehrlich (21) gesagt habe ich einen Moment daran gedacht aufzugeben, da ich zuviel Strenge meinerseits vorhersah.Keineswegs möchte ich die Künstler in ihrem Geschmack vor den Kopf stoßen, sie haben mich weitaus heftiger in meinen Sympathien vor den Kopf gestoßen! Verstehen meine Leser meine Lage, sagen sie sich: »Der arme Teufel ist ganz angewidert und unterdrückt mit Rücksicht auf die Leserschaft seine Übelkeit«?

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Niemals habe ich eine derartige Anhäufung von Mittelmäßigem gesehen. Dort sind zweitausend Gemälde, und dort sind keine drei Menschen. Von diesen zweitausend Gemälden sprechen fünf oder sechs eine menschliche Sprache; die übrigen erzählen Ihnen parfümierte Albernheiten. Bin ich zu streng? Dabei sage ich nur laut, was die anderen leise denken.Ich verneine unsere Epoche durchaus nicht. Ich glaube an sie, ich weiß, daß sie sucht und arbeitet. Wir leben in einer Zeit der Kämpfe, wir haben unsere Talente und unsere Genies. Aber ich will nicht, daß man Mittelmäßige und Tüchtige durcheinanderbringt, ich halte die gleichmacherische Nachsicht für ungut, die jeden mit einem Lobeswort bedenkt, und somit niemanden lobt.Unsere Epoche ist diese. Wir sind zivilisiert, wir haben Boudoirs und Salons; getünchte Wände sind gut für die kleinen Leute, die Reichen brauchen Gemälde an ihren Wänden. Und deshalb wurde eine ganze Zunft von Arbeitern geschaffen, die das von den Maurern begonnene Werk vollenden. Wie Sie sich denken können, werden viele Maler gebraucht, und sie mussen in Massen aufgepäppelt werden. Im übrigen berät man sie bestens, wie sie gefallen können und den Zeitgeschmack nicht verletzen.Hinzu kommt der Geist der modernen Kunst. Als Reaktion auf das Vordringen von Wissenschaft und Industrie haben sich die Künstler in den Traum, in einen Talmihimmel voller Flitter und Seidenpapier gestürzt.
Sehen Sie doch einmal nach, ob die Renaissancemeister an die entzückenden Kinkerlitzchen dachten, vor denen wir außer uns geraten. Sie waren starke Naturen, die beim Malen aus dem vollen Leben schöpften. Wir sind nervös und unruhig; in uns ist viel Weibliches, und wir fühlen uns so schwach und verbraucht, daß strotzende Gesundheit uns zuwider ist. Mit Sentimentalem und Gekünsteltem kenne ich mich aus!
Unsere Künstler sind Poeten. Das ist eine schwere Beleidigung (22) für Leute, die gar nicht die Aufgabe haben zu denken, aber ich erhalte sie aufrecht. Sehen Sie sich den Salon an: nichts als Strophen und Madrigale. Dieser reimt eine Ode auf Polonia, jener eine Ode auf Kleopatra; einer singt in der Art des Tibull, und ein anderer versucht in die große Trompete des Lukrez zu blasen. Ganz zu schweigen von den Kriegshymnen, den Elegien, den schlüpfrigen Liedern und den Fabeln.Was für eine Katzenmusik!Seid so gnädig und malt, schließlich seid Ihr Maler, singt nicht. Da ist Fleisch, da ist Licht: macht daraus einen Adam, der Eure Schöpfung ist. Ihr sollt Menschen machen und keine Schatten. Doch ich weiß, daß ein splitternackter Mensch in einem Boudoir unziemlich ist. Deshalb malt Ihr große groteske Hampelmänner, die nicht unanständiger und lebendiger sind als die rosa Puppen kleiner Mädchen.Begabte Maler arbeiten anders. Sehen Sie sich die paar bemerkenswerten Bilder im Salon an.

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Sie fressen ein Loch in die Wand, sie sind beinahe ungefällig, sie schreien im gemäßigten Murmeln ihrer Nachbarn. Maler, die solche Werke fabrizieren, gehören nicht zur Zunft der eleganten Tüncher, von denen ich gesprochen habe. Sie sind nicht sehr zahlreich, sie leben aus sich selbst heraus, außerhalb jeder Schule.
Wie ich schon sagte, kann man der Jury die Mittelmäßigkeit unserer Maler nicht vorwerfen. Doch da sie meint, streng sein zu müssen, warum erspart sie uns dann nicht den Anblick all dieser Trivialitäten? Wenn sie nur die Begabten zuließe, würde ein drei Quadratmeter großer Saal ausreichen.War es so revolutionär von mir, die temperamentvollen Maler zu vermissen, die nicht im Salon auftreten? Wir sind nicht so reich an originellen Persönlichkeiten, daß wir die vorhandenen ablehnen könnten. Im übrigen sterben die Eigenwilligen, wie ich weiß, nicht an einer Ablehnung. Ich verteidige ihre Sache, weil sie mir gerecht erscheint. Aber eigentlich bin ich wegen des Gesundheitszustandes der Begabten unbesorgt. Unsere Väter haben über Courbet gelacht, und wir geraten bei seinem Anblick in Verzückung; wir lachen über Manet, und unsere Söhne werden vor seinen Bildern in Verzückung geraten. Es ist nicht so, daß ich Nostradamus Konkurrenz machen möchte, aber ich habe Lust, dieses merkwürdige Ereignis für die allernächste Zeit vorauszusagen.(23) Postskriptum:
Auf meinen letzten Artikel hin bekam ich eine große Anzahl Briefe und Beschwerden. Ich bin es meiner Würde schuldig zuzugeben, daß mir die geringe Stichhaltigkeit mehrerer Einzelheiten nachgewiesen wurde, deren Richtigkeit man mir zuvor mehrfach bestätigt hatte. Da es so ist, lasse ich die Fakten lieber beiseite und halte mich ausschließlich an meine Kunstauffassung....

Edouard Manet

Wir lachen in Frankreich zwar gerne, doch mitunter sind wir von ausgesuchter Höflichkeit und vollendetem Takt. Wir schonen die Verfolgten, wir verteidigen mit all unserer Kraft die Sache der Menschen, die allein gegen die Masse kämpfen.

Ich habe heute voller Sympathie dem Künstler die Hand gedrückt, den eine Gruppe seiner Kollegen vor die Tür des Salons gesetzt hat. Hätte ich, um ihn rückhaltlos zu loben, nicht die große Bewunderung, die seine Begabung in mir erweckt, wäre da noch seine Position als Ausgestoßener, als unbeliebter, artverletzender Maler.

Bevor ich von jenen spreche, die jedermann sehen kann, von jenen, die ihre Mittelmäßigkeit im vollen Licht ausbreiten, mache ich es mir zur Pflicht, den größtmöglichen Beitrag dem zu widmen, dessen Werke man abgelehnt hat und den man für unwürdig befunden hat, sich unter fünfzehnhundert bis zweitausend Unfähigen zu zeigen, die mit offenen Armen aufgenommen wurden.

Und ich sage ihm: »Trösten Sie sich. Man hat Sie ausgesondert, und Sie verdienen es, abgesondert zu leben. Sie denken anders als all diese Leute, Sie malen, wie Ihr Herz und Ihre Seele es Ihnen vorschreiben, Sie sind eine Persönlichkeit, die sich ungeschminkt offenbart. Ihre Gemälde fühlen sich unter ihren seichten und sentimentalen Zeitgenossen unbehaglich. Bleiben Sie in Ihrem Atelier. Dort werde ich Sie aufsuchen und Sie bewundern.«
Ich will mich zu Edouard Manet so verständlich wie möglich äußern, damit es zwischen dem Publikum und mir kein Mißverständnis gibt. Ich dulde es nicht und werde es niemals dulden, daß eine Jury die Macht hatte, der Menge die Werke einer der vital(24)sten Persönlichkeiten unserer Epoche vorzuenthalten. Da meine Sympathien außerhalb des Salons sind, werde ich ihn erst betreten, wenn ich mein Bedürfnis, etwas zu bewundern, anderswo befriedigt habe.
Anscheinend bin ich der erste, der Edouard Manet rückhaltlos lobt, da mir all diese Boudoirmalereien, diese kolorierten Bildchen, diese miserablen, unlebendigen Gemälde nichts sagen. Wie ich schon sagte, interessiert mich allein Vitalität.

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Ich werde auf der Straße angesprochen und gefragt: »Das ist doch nicht Ihr Ernst, nicht wahr? Sie fangen gerade erst an zu schreiben, Sie sägen ja den Ast ab, auf dem Sie sitzen. Aber hier, wo uns niemand sieht, können wir miteinander über das Urkomische an Le déjeuner sur l´herbe (Frühstück im Freien), an der Olympia (Olympia), an Le joueur de fifre (Der Pfeifer) zu lachen.«

Manet, Frühstück, 1863
So weit ist es mit der Kunst gekommen, daß man nicht einmal mehr die Freiheit hat, zu bewundern, was man möchte. Ich gelte daher als einer, der sich aus Berechnung selbst belügt. Und mein Verbrechen besteht darin, daß ich endlich die Wahrheit über einen Künstler sage, den man nicht zu verstehen vorgibt und wie einen Leprakranken aus der kleinen Welt der Maler vertreibt.

Manet, Pfeifer, 1866

Die Meinung der Mehrheit über Edouard Manet lautet: Edouard Manet ist ein junger Farbenkleckser, der sich mit gleichaltrigen Schlingeln zum Rauchen und Trinken zurückzieht. Nachdem einige Bierfässer geleert worden sind, beschließt der Farbenkleckser, Karikaturen zu malen und auszustellen, damit die Menge sich über ihn lustig macht und seinen Namen behält. Er macht sich an die Arbeit, er malt Ungeheuerliches, er hält sich beim Anblick seines Bildes vor Lachen die Seiten, er träumt nur davon, sich über das Publikum lustig zu machen und einen Ruf als Exzentriker zu erringen.
Gute Leute!

An dieser Stelle kann ich eine Anekdote einflechten, die das Empfinden der Masse hervorragend illustriert. Eines Tages saßen Edouard Manet und ein sehr bekannter Schriftsteller in einem Straßencafé. Ein Journalist kommt hinzu, dem der Literat den jungen Meister vorstellt. Der Journalist stellt sich auf die Zehenspitzen, blickt nach rechts, blickt nach links; schließlich entdeckt er den Künstler vor sich, der bescheiden und wenig Platz bean(25)spruchend vor ihm sitzt. »O pardon!« ruft er aus. »Ich dachte, Sie wären ein Riese, und suchte überall ein grinsendes Galgengesicht. «
Genauso denkt das Publikum.

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Die Künstler selbst, die Kollegen, jene, die Verständnis haben müßten, wagen nicht, sich zu entscheiden. Die einen, ich spreche von den Dummen, lachen, ohne hinzusehen, mokieren sich boshaft über diese starken und von sich selbst überzeugten Bilder. Die anderen sprechen von unzulänglicher Begabung, von gewollten Grobheiten, von systematischer Gewaltsamkeit. Kurz, sie lassen das Publikum seine Scherze machen, ohne auch nur daran zu denken, ihm zu sagen: »Lachen Sie nicht so laut, wenn Sie nicht für Dummköpfe gehalten werden wollen. An alldem ist nicht das Geringste zum Lachen. Es geht um einen aufrichtigen Künstler, der seiner Natur folgt, der fieberhaft das Wahre sucht, der sich verausgabt und der nicht so kleinmütig ist wie wir.«

Da niemand es sagt, werde ich es sagen, werde ich es hinausposaunen. Ich bin so sicher, daß Edouard Manet einer der Meister von morgen sein wird, daß ich, wäre ich vermögend, ein gutes Geschäft zu machen glaubte, wenn ich heute alle seine Gemälde aufkaufen würde. In zehn Jahren werden sie das Fünfzehn- und Zwanzigfache kosten, und bestimmte Gemälde für vierzigtausend Francs werden nur vierzig Francs wert sein.

Dabei braucht man nicht sehr intelligent zu sein, um Derartiges vorherzusagen.
Auf der einen Seite haben wir Mode- und Salonerfolge; wir haben Künstler, die sich eine kleine Spezialität ausdenken, die eine der Eintagsvorlieben des Publikums ausschlachten. Wir haben verträumte, elegante Herren, die mit ihrer Pinselspitze schlecht aufgetragene Bilder malen, denen einige Regentropfen den Garaus machen würden.

Auf der anderen Seite dagegen haben wir einen Mann, der sich unmittelbar an die Natur heranwagt, der die gesamte Kunst in Frage gestellt hat, der aus sich selbst heraus zu erschaffen und nichts von seiner Person zu verbergen trachtet. Glauben Sie nicht, daß mit kraftvoller, sicherer Hand gemalte Bilder dauerhafter sind als Bilderbögen aus Epinal?
Wenn Sie wollen, können wir über die Maler lachen, die sich über sich selbst und über das Publikum lustig machen, indem sie (26) ohne Scham Leinwände ausstellen, die ihren ursprünglichen Wert verloren haben, seit sie mit Gelb und Rot beschmiert wurden. Wenn die Masse künstlerisch gebildet wäre, wenn sie allein individuelle neue Talente zu bewundern verstünde, dann versichere ich Ihnen, daß der Salon ein Ort öffentlicher Erheiterung wäre, weil seine Besucher keine zwei Säle besichtigen könnten, ohne sich krankzulachen. Das ungeheuer Komische in der Ausstellung sind die schamlosen und banalen ausgestellten Werke in ihrer Armseligkeit und Dummheit.
Für einen unparteiischen Beobachter waren die dümmlichen Ansammlungen vor Edouard Manets Gemälden ein betrübliches Schauspiel. Ich habe dort viele Platitüden gehört und dachte: »Werden wir immer so kindisch bleiben und uns verpflichtet fühlen, besonders geistreich zu sein? Hier stehen Menschen, die, ohne zu wissen, warum, lauthals lachen, weil sie in ihren Gewohnheiten und Überzeugungen getroffen sind. Sie finden es komisch und lachen. Sie lachen, wie ein Buckliger über einen anderen Menschen lachen würde, weil dieser keinen Buckel hat.«

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Ich war nur einmal in Edouard Manets Atelier. Der Künstler ist von mittlerer Statur, eher klein als groß. Er hat blonde Haare und eine gesunde Gesichtsfarbe. Er ist etwa dreißig Jahre alt, seine Augen sind lebhaft und intelligent, der Mund beweglich, mitunter ein bißchen spöttisch. Das ganze unregelmäßige, ausdrucksvolle Gesicht hat irgend etwas Scharfsinniges und Energisches. Im übrigen sind seine Gebärden und seine Stimme höchst bescheiden und sanft. Der von der Masse als spottlustiger Farbenkleckser Beschimpfte lebt zurückgezogen im Familienkreis. Er ist verheiratet und führt das regelmäßige Leben eines Bürgers. Er arbeitet besessen; ein Suchender, der die Natur studiert, sich selbst befragt und seinen Weg verfolgt.

Wir haben uns über die Haltung des Publikums ihm gegenüber unterhalten. Er nimmt sie ernst, läßt sich von ihr anscheinend jedoch nicht entmutigen. Er glaubt an sich, er läßt die Lachstürme gelassen über seinen Kopf hinwegziehen und ist sicher, daß der Beifall kommen wird.

Ich stand einem überzeugten Kämpfer gegenüber, einem unbeliebten Mann, der vor dem Publikum nicht zittert, der nicht versucht, das Tier zu zähmen, sondern vielmehr, es zu bändigen, ihm seine Künstlerpersönlichkeit aufzuzwingen.

(27) In diesem Atelier habe ich Edouard Manet ganz und gar verstanden. Ich hatte ihn vorher instinktiv gemocht: Seit meinem Atelierbesuch habe ich sein Talent wirklich erkannt, dieses Talent, das ich versuchen werde zu analysieren. Im Salon schrien seine Gemälde im grellen Licht inmitten der Bilder für einen Sou, die man um sie herum aufgehängt hatte. Im Atelier sah ich sie endlich isoliert, so wie jedes Bild gesehen werden muß, an dem Ort, wo sie gemalt wurden.
Edouard Manets Talent beruht auf Einfachheit und Genauigkeit. Wahrscheinlich hat er angesichts der unglaublichen Naturdarstellung mancher seiner Kollegen beschlossen, die Realität ganz für sich zu studieren, alles erworbene Wissen, jede überkommene Erfahrung auszuschlagen, an den Ausgangspunkt der Kunst zurückzukehren, das heißt zur genauen Beobachtung der Gegenstände.

Er hat sich mutig vor ein Motiv gestellt, hat dieses Motiv in großen Farbflecken, in kraftvollen Kontrasten gesehen und hat jeden einzelnen Gegenstand in strenger Manier so gemalt, wie er ihn sah. Wer wagt es da, von kleinlicher Berechnung zu sprechen, wer wagt es, einen gewissenhaften Künstler zu beschuldigen, er mache sich über die Kunst und über sich selbst lustig? Die Spötter müßten bestraft werden, weil sie einen Mann beleidigen, der eine unserer Berühmtheiten sein wird, und sie beleidigen ihn, der nicht daran denkt, über sie zu lachen, indem sie ihn in erbärmlicher Weise auslachen. Ich versichere Ihnen, daß Ihre Grimassen und Ihr Grinsen ihn wenig berühren.

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Ich habe Das Frühstück im Freien wiedergesehen, das im Salon des Refusés ausgestellte Meisterwerk, und ich fordere unsere derzeit modernen Maler auf, uns einen weiteren, luftigeren und lichtvolleren Horizont zu schenken. Ja, Sie lachen noch darüber, weil François-Henri Nazons violette Himmel Sie verdorben haben. Hier ist eine wohlgestalte Natur dargestellt, die Ihnen mißfallen muß. Es gibt auch weder Léon Géromes Gips-Kleopatra noch Edouard Dubufes hübsche rosige Mädchen, sondern leider nur ganz alltägliche Menschen mit Muskeln und Knochen wie jedermann. Ich verstehe Ihre Enttäuschung und Heiterkeit angesichts dieses Gemäldes; man hätte Ihrem Blick mit Reklamebildchen schmeicheln müssen.
 Auch die Olympia habe ich wiedergesehen, deren schwerer (28) Fehler darin besteht, so manchem Fräulein ähnlich zu sehen, das Sie kennen. Und außerdem, welch befremdende Manie, anders als die anderen zu malen, nicht wahr? Wenn Edouard Manet sich wenigstens Alexandre Cabanels Puderquaste ausgeliehen hätte und die Wangen und Brüste der Olympia ein wenig geschminkt hätte, wäre das junge Mädchen vorzeigbar gewesen. Es ist auch eine Katze darauf zu sehen, die das Publikum sehr amüsiert hat. Diese Katze ist wirklich hochgradig komisch, nicht wahr? Man muß wirklich toll sein, um eine Katze in dieses Bild zu setzen. Eine Katze, stellen Sie sich das vor. Dazu noch eine schwarze Katze. Sehr kurios. Liebe Mitbürger, geben Sie zu, daß Sie etwas einfältig sind. Olympias legendäre Katze ist ein zuverlässiger Hinweis auf das Ziel, mit dem Sie in den Salon gehen. Geben Sie es zu, Sie suchen dort Katzen und haben Ihre Zeit nicht vergeudet, wenn Sie eine schwarze Katze finden, die Sie erheitert.

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Manet, Olympia, 1865

Doch das Werk, das mir zweifelsohne am besten gefällt und das dieses Jahr abgelehnt wurde, ist Der Pfeifer. Der junge Musiker in Dienstuniform, roter Hose und Feldmütze hebt sich von einem leuchtenden grauen Hintergrund ab. Dem Betrachter zugewandt bläst er in sein Instrument. Weiter oben habe ich gesagt, Edouard Manets Talent beruhe auf Einfachheit und Genauigkeit. Dabei habe ich vor allem an dieses Bild gedacht. Ich glaube, es ist unmöglich, mit unkomplizierteren Mitteln eine stärkere Wirkung zu erzielen.
Edouard Manets Temperament ist herb und setzt sich durch. Er hält seine Figuren kraftvoll fest, die Schroffheit der Natur schreckt ihn nicht ab, er geht ohne Zögern von Weiß zu Schwarz über, er stellt die verschiedenen Gegenstände, scharf voneinander abgehoben, in ihrer ganzen Kraft dar. Alles in ihm drängt ihn, in Farbflecken, in schlichten, energischen Bruchstücken zu sehen. Man kann von ihm sagen, daß er sich darauf beschränkt, die richtigen Farbvaleurs zu finden und sie anschließend auf einer Leinwand nebeneinanderzusetzen. So bedeckt sich die Leinwand allmählich mit einer soliden, kräftigen Malerei. Ich entdecke in diesem Bild einen Menschen, der wißbegierig die Wahrheit sucht und der eine einzigartige, starke, lebendige Welt hervorbringt.

Sie wissen, welche Wirkung Edouard Manets Bilder im Salon erzeugen. Sie durchbohren ganz einfach die Wand. Um sie herum breiten sich die Süßigkeiten der modischen Kunstkonditoren aus, (29) die Bäume aus Kandiszucker und die Häuser aus Blätterteig, die Lebkuchenmänner und die Figuren aus Vanillepudding. Der Bonbonladen wird rosaroter und süßer, und die lebendigen Bilder des Künstlers scheinen inmitten dieses Milchstroms etwas bitter zu werden. Man muß die verzogenen Gesichter der großen Kinder sehen, die durch den Saal gehen. Niemals wird man sie dazu bringen, auch nur für zwei Sous richtiges rohes Fleisch zu essen, doch mit all den ekelhaften Süßigkeiten, die man ihnen präsentiert, stopfen sie sich voll.

Sehen Sie sich die Gemälde neben seinen nicht mehr an. Sehen Sie sich die lebenden Menschen im Saal an. Studieren Sie die Kontraste, die ihre Körper auf dem Parkett und auf den Wänden bilden. Dann sehen Sie sich Edouard Manets Gemälde an: Sie werden sehen, daß in ihnen Wahrheit und Kraft sind. Nun sehen Sie sich die anderen Bilder an, die rings um Sie dümmlich lächeln: Sie müssen lachen, nicht wahr?

Edouard Manets Platz im Louvre ist reserviert wie der von Courbet, wie der jedes vitalen, kompromißlosen Künstlers. Ansonsten gibt es nicht die geringste Ähnlichkeit zwischen Courbet und Manet, und diese Künstler müssen sich, wenn sie logisch sind, gegenseitig verneinen. Gerade weil sie nichts Ähnliches haben, können sie jeder für sich ihre Besonderheit ausleben.

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Es geht nicht darum, eine Parallele zwischen ihnen herzustellen. Ich befolge meine eigene Sehweise, die darin besteht, Kunstwerke nicht an einem absoluten Ideal zu messen und nur einzigartige Persönlichkeiten zu akzeptieren, solche, die sich wahr und kraftvoll behaupten.
Ich kenne die Entgegnung: »Sie halten Absonderlichkeit für Originalität, das heißt, Sie nehmen an, es genüge, es anders zu machen als die anderen, um es gut zu machen.« Gehen Sie in Edouard Manets Atelier, meine Herren, dann kehren Sie in Ihres zurück und versuchen Sie zu machen, was er macht, imitieren Sie zum Spaß diesen Maler, der Ihrer Meinung nach das öffentliche Gelächter gepachtet hat. Dann werden Sie sehen, daß es gar nicht so leicht ist, alle zum Lachen zu bringen. Seien Sie versichert: Edouard Manets Absonderlichkeit ist wirkliche Originalität, und wenn er es anders macht als die anderen, macht er es auch besser als die anderen.
Ich habe versucht, Edouard Manet den Platz zu geben, der ihm (30) zusteht, nämlich einer der ersten. Vielleicht wird der Lobredner ebenso ausgelacht werden wie der Maler. 

Eines Tages werden wir beide gerächt. Es gibt eine ewige Wahrheit, die mir als Kritiker beisteht: allein die vitalen Künstler erleben und überragen die Epochen. Es ist ausgeschlossen - ausgeschlossen, hören Sie -, daß Edouard Manet nicht eines Tages triumphiert, daß er die ängstlichen Mittelmäßigen rings um ihn nicht weit in den Schatten stellt.

Wer zittern muß, sind die Kunstmacher, die Männer, die den Meistern der Vergangenheit einen Anschein von Originalität gestohlen haben, jene, die leblose Bäume und Menschen hinpinseln, die weder wissen, was sie sind, noch was die sind, die sie auslachen. Das sind die Toten von morgen; manche sind, wenn sie beerdigt werden, schon seit zehn Jahren tot und überleben sich, indem sie schreien, die Würde der Kunst werde beleidigt, wenn ein lebendiges Gemälde in dieses Salon genannte Massengrab gelangt.

Die Realisten im Salon

Ich wäre verzweifelt, wenn meine Leser einen Augenblick lang glaubten, ich sei hier der Fahnenträger einer Schule. Es wäre ein völliges Mißverständnis, würde man aus mir einen Realisten, einen von einer Partei Angeworbenen machen.

Ich gehöre zu meiner Partei, der Partei des Lebens und der Wahrheit, das ist alles. Ich habe einige Ähnlichkeit mit Diogenes, der einen Menschen suchte: Ich suche in der Kunst auch Menschen, neue, kraftvolle Temperamente.

Ich schere mich nicht um den Realismus, insofern als dieses Wort nichts Genaues für mich bedeutet. Wenn Sie mit diesem Begriff meinen, daß die Maler die wirkliche Natur studieren und wiedergeben sollen, so steht außer Zweifel, daß alle Künstler Realisten sein müssen. Träume zu malen ist ein Spiel für Kinder und Frauen; die Männer haben die Aufgabe, Realitäten zu malen

Sie nehmen sich die Natur vor und geben sie wieder, sie geben sie durch ihr jeweiliges Temperament gesehen wieder. So wird uns jeder Künstler eine andere Welt schenken, und ich werde all (31) diese verschiedenen Welten mit Vergnügen annehmen, vorausgesetzt, daß jede der lebendige Ausdruck einer Seele ist. Ich bewundere die Welten von Delacroix und Courbet. Angesichts dieser Erklärung wird man mich, glaube ich, nicht in irgendeine Schule einsperren können.

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Nun verhält es sich in unserer Zeit psychologischer und physiologischer Analyse aber so, daß die Wissenschaft in der Luft liegt. Wir werden gegen unseren Willen zum genauen Studium der Dinge und Tatsachen getrieben. Daher setzen sich auch alle aufkommenden starken Persönlichkeiten im Sinne der Wahrheit durch. Die Bewegung der Epoche ist gewiß realistisch oder vielmehr positivistisch. Deshalb muß ich Männer bewundern, die irgend etwas Gemeinsames miteinander haben, die Gemeinsamkeit der Zeit, in der sie leben.

Sollte jedoch morgen ein andersartiges Genie, ein wacher Geist geboren werden, der uns machtvoll eine neue Erde, seine Erde, schenkt, so ist ihm mein Beifall sicher. Ich kann es nicht oft genug wiederholen, daß ich Menschen suche und keine Wachspuppen, Menschen aus Fleisch und Blut, die sich uns bekennen, und keine verlogenen Hampelmänner, die nur Kleie im Leib haben.
Man schreibt mir, ich lobte »die Malerei der Zukunft«. Ich weiß nicht, was dieser Ausdruck bedeuten soll. Ich glaube, jedes Genie wird unabhängig geboren und hinterläßt keine Schüler. Um die Malerei der Zukunft mache ich mir wenig Gedanken; sie wird so sein, wie die Künstler und die Gesellschaften von morgen sie erschaffen.

Das große Schreckgespenst ist nicht der Realismus, es ist die eigenwillige Persönlichkeit. Jeder, der anders ist als die anderen, wird allein dadurch ein Gegenstand des Argwohns. Sobald die Masse nicht mehr versteht, lacht sie. Damit das Genie akzeptiert wird, wäre es nötig, die Masse zu bilden. Die Geschichte der Literatur und der Kunst ist eine Art Märtyrerliste, die das Hohngelächter beschreibt, mit dem jede neue Außerung des menschlichen Geistes überschüttet wurde.
Es sind Realisten im Salon dabei - ich spreche nicht mehr von eigenwilligen Persönlichkeiten -, es sind Künstler dabei, die die wirkliche Natur in all ihrer Brutalität und Gewalt wiederzugeben behaupten.

Um zu beweisen, daß eine mehr oder weniger exakte Naturbe(32)obachtung mich kalt läßt, wenn dem Bild nicht von einer kraftvollen Persönlichkeit Leben eingehaucht wird, werde ich zunächst meine unverblümte Meinung zu Claude Monet, Théodule-Augustin Ribot, Antoine Vollon, Francois Bonvin und Ferdinand Roybet sagen.

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Gustave Courbet und Jean-François Millet möchte ich gesondert untersuchen.
Ich gestehe, daß das Bild, vor dem ich am längsten stehengeblieben bin, die Camille (Camille oder Das grüne Kleid) von Claude Monet war. Das ist ein entschiedenes, lebendiges Gemälde. Ich hatte diese kalten, leeren Säle durchwandert und war es müde, keinem einzigen neuen Talent zu begegnen, als ich diese junge Frau in ihrem schleppenden langen Kleid erblickte, die sich in die Wand hineinbohrt, als wäre dort ein Loch. Sie können sich nicht vorstellen, wie schön es ist, ein wenig zu bewundern, wenn man es leid ist, zu lachen und die Achseln zu zucken.
Ich kenne Monsieur Monet nicht, ich glaube sogar, daß ich nie zuvor eines seiner Gemälde gesehen habe. Dennoch kommt es mir so vor, als wäre ich einer seiner alten Freunde. Und das, weil sein Bild mir eine Geschichte voller Energie und Wahrheit erzählt.
Claude Monet, Camille, 1866


Claude Monet, Wald von Fontainebleau, 1866

Er ist ein Temperament, ein Mann in der Masse der Eunuchen. Betrachten Sie die daneben hängenden Bilder und sehen Sie, wie trostlos sie neben diesem in die Natur hinausgehenden Fenster wirken. Er ist mehr als ein Realist, er ist ein einfühlsamer Interpret, der es verstanden hat, jedes Detail wiederzugeben, ohne daß es in Nüchternheit umschlägt.

Sehen Sie nur das Kleid. Es ist geschmeidig und fest. Es fällt weich, es lebt, es sagt laut, wer diese Frau ist. Es ist kein Puppenkleid, keiner jener Musselinfetzen, in die man Träume kleidet. Es ist aus solider, kein bißchen abgetragener Seide, die auf Edouard Dubufes Schlagsahnegebilden zu schwer wäre.
Sie wollen Realisten, Temperamente, hat man mir geschrieben, sehen Sie sich Théodule-Augustin Ribot an. Ich bestreite, daß Ribot ein eigenständiges Temperament hat, und ich bestreite, daß er die Natur in ihrer Wahrheit wiedergibt.

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Zunächst zur Wahrheit. Sehen Sie sich dieses große Gemälde an: Jesus unter den Schriftgelehrten in einer Ecke des Tempels. Starke Schatten, breite, fahle Lichtflecken. Wo ist das Blut, wo ist (33) das Leben? Das soll Realität sein! Die Gesichter dieses Kindes und dieser Männer sind doch hohl. In diesem schlaffen, aufgedunsenen Fleisch ist nicht ein Knochen. Soll dieses Bild etwa wirklichkeitsnah sein, weil die dargestellten Menschen vulgär sind? Wirklichkeitsnah nenne ich ein Werk, das lebt, ein Werk, dessen Figuren sich bewegen und sprechen können. Hier sehe ich nur aufgelöste, leichenblasse, tote Geschöpfe.

Was liegt an der Wahrheit, habe ich gesagt, wenn die Lüge von einem einzigartigen, kraftvollen Temperament vorgetragen wird? Dann müßte Théodule-Augustin Ribot ja alles Nötige haben, um mir zu gefallen. Diese weißlichen Lichtflecken, diese schmutzigen Schatten sind bloße Vorurteile; der Künstler hat der Natur den Stempel seiner Persönlichkeit aufgedrückt und hat diese fahle Welt vollständig erschaffen. 

Unglücklicherweise hat er überhaupt nichts erschaffen. Seine Welt existiert seit langem. Es ist eine kaum französisierte spanische Welt. Das Werk ist nicht nur nicht wahr und unlebendig, sondern ist obendrein kein neuer Ausdruck des menschlichen Geistes.
Théodule-Augustin Ribot hat keinen neuen Beitrag zur Kunst geleistet, er hat nichts Eigenes gesagt, hat uns keine Seele und kein Herz offenbart. Hier handelt es sich um ein unnötiges Temperament, ein unglückliches Zusammentreffen, wenn man so will. Diese unechte Schaffenskraft, diese falsche Persönlichkeit ziehe ich zwar den betrüblichen Nettigkeiten vor, von denen ich sprechen werden muß, aber in meinem tiefsten Innern höre ich eine Stimme, die mir zuruft: »Sieh dich vor! Dieser ist trügerisch. Er wirkt kraftvoll und wahr. Dringe bis in den Kern vor, und du wirst Lüge und Nichtigkeit finden."
Der Realismus besteht für viele - für Antoine Vollon zum Beispiel - in der Wahl eines gewöhnlichen Themas. Dieses Jahr ist Vollon insofern realistisch, als er eine Dienstmagd in ihrer Küche darstellt. Das brave dicke Mädchen war auf dem Markt und hat seine Einkäufe auf dem Boden abgestellt. Es trägt einen roten Rock, zeigt seine gebräunten Arme, sein plumpes Gesicht und lehnt sich an die Wand.

Ich sehe darin nichts Wirklichkeitsnahes, denn diese Dienstmagd ist aus Holz und klebt so fest an der Wand, daß nichts sie davon ablösen könnte. In der Natur, im hellen Licht verhalten die Gegenstände sich anders. Küchen sind gewöhnlich sehr luftig, (34) und die Dinge darin nehmen nicht so eine altbackene, braungebratene Farbe an. Zudem sind die Kontraste, die Farbflecken in Interieurs lebhaft, wenn auch gedämpft; es wird nicht alles eingeebnet. Die Wahrheit ist brutaler, intensiver.

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Malen Sie Rosen, aber malen Sie sie lebendig, wenn Sie sich Realist nennen.

François Bonvin scheint mir ebenfalls ein platonischer Liebhaber der Wahrheit zu sein. Seine Sujets stammen aus dem wirklichen Leben, aber die Art und Weise, wie er sie behandelt, könnte ebensogut dafür herhalten, die Träume gewisser modischer Maler zu behandeln. An der Ausführung ist irgend etwas Steifes und Kleinliches, was der Figur jegliches Leben raubt.

La Grandmaman (Die Großmutter), die François Bonvin ausstellt, ist eine liebe alte Frau mit der Bibel auf dem Schoß. Sie schnuppert an dem Kaffee, der ihr gebracht wird. Das Gesicht erschien mir angespannt und verzerrt: es ist zu detailliert. Der Blick verliert sich in den liebevoll wiedergegebenen Falten und wäre besser in einem solide gemalten Gesicht aus einem Stück aufgehoben. Die Wirkung zersplittert, der Kopf hebt sich nicht kraftvoll vom Hintergrund ab.

Vor der Eröffnung des Salons gab es einigen Wirbel um Ferdinand Roybets Gemälde Un fou sous Henri III [Ein Narr zur Zeit Heinrich III.]. Es wurde von einer hervorragenden Persönlichkeit, von eindringlichem Realismus gesprochen. Ich habe das Gemälde gesehen und habe die Vorschußlorbeeren nicht begriffen. Das ist redliche Malerei, gewiß solider als die von Jean-Louis Hamon, aber von äußerst mäßiger Vitalität.

Die angekündigte Persönlichkeit hat sich meinen Blicken nicht offenbart.
Der ganz in Rot gekleidete Narr hält zwei Doggen an der Leine, die wie liebe Kinder aussehen. Er lacht mit offenem Mund, und man könnte ihn für einen bekleideten Satyr halten.

Das Sujet tut übrigens wenig zur Sache, und das Schlimmste ist, daß ich diese Hunde, vor allem diesen Menschcn kleinlich dargestellt finde. Auch hier wird der Gesamteindruck wieder durch Einzelheiten gestört. Den Stoffen fehlt es an Geschmeidigkeit, die Hände der Figur sehen aus wie Holzschaufeln, und das Gesicht wirkt sorgfältig ziseliert.

Ich spüre in alldem keine Körperlichkeit, und wenn überhaupt (35) empfinde ich etwas Sympathie für die beiden Doggen, die viel stabiler dastehen als ihr Herrchen.
Das zu den wenigen Realisten im Salon. Einige übergehe ich, die wichtigsten habe ich jedoch genannt und studiert. Ich möchte lediglich noch einmal klarmachen, daß ich keiner Schule verpflichtet bin und daß ich vom Künstler nur verlange, individuell und vital zu sein.

Ich habe mich um besondere Strenge bemüht, da ich befürchtete, mißverstanden worden zu sein. Ich hege keinerlei Sympathie für eigenwillige Exzesse und akzeptiere nur wahrhaft individuelle und deutlich herausragende Persönlichkeiten. Jede Schule mißfällt mir, da sie die Negation der Freiheit menschlichen Schaffens ist. In einer Schule ist einer der Meister, und die Schüler sind zwangsläufig Imitatoren

ch setze mich also ebensowenig für Realismus wie für etwas anderes ein. Für die Wahrheit meinetwegen, für das Leben, doch vor allem für unterschiedliche Herzen und Seelen, die die Natur unterschiedlich interpretieren. Ein Kunstwerk kann nur wie folgt definiert werden: Ein Kunstwerk ist ein Zipfel der Schöpfung aus der Sicht eines individuellen Temperaments.

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Die Durchgefallenen

Zur Zeit wird eine ausgezeichnete Komödie gespielt: im Salon, vor den Bildern Gustave Courbets. Das kurioseste Studienobjekt sind, selbst in Hinblick auf die Kunst, nicht immer die Künstler, es sind oft die Besucher, die mit einem einzigen Wort, mit einer bloßen Geste naiv offenbaren, wie es bei uns um die Kunst bestellt ist. Bisweilen ist es gut, die Menge zu befragen.

In diesem Jahr gelten Courbets Gemälde als bezaubernd. Man findet seine Landschaft erlesen und seine Frauenskizze gefällig. Ich habe Menschen in Verzückung geraten sehen, die den Meister von Ornans bisher äußerst unfreundlich beurteilt haben. Das hat meinen Argwohn geweckt. Ich suche gern Erklärungen für derartiges und habe diesen plötzlichen Umschwung der öffentlichen Meinung nicht gleich verstanden.

Doch die Erklärung fand sich, als ich mir die Gemälde von (36) nahem angesehen habe. Wie ich sagte, ist der große Feind die Persönlichkeit, der befremdende Eindruck einer individuellen Natur. Ein Bild wird um so mehr geschätzt, je unpersönlicher es ist. Courbet hat dieses Jahr die allzu rauhen Kanten seines Genies abgerundet, er hat mit Samtpfoten gemalt, und nun ist die Menge entzückt, findet ihn wie alle anderen und applaudiert befriedigt, daß der Meister sich ihr gebeugt hat.

Ich verhehle die inbrünstige Lust nicht, mit der ich in die geheimen Triebfedern irgendeiner Struktur eindringe. Mir liegt mehr am Leben als an der Kunst. Es bereitet mir ungeheuren Spaß, die großen Strömungen zu untersuchen, die die Massen überschwemmen und sie aus ihrem Bett werfen. Nichts erschien mir insofern merkwürdiger als die Tatsache, daß ein kraftvoller Geist ausgerechnet an dem Tag bewundert wird, an dem er etwas von seiner Kraft eingebüßt hat.

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Ich bewundere Courbet und werde es gleich beweisen. Doch bitte versetzen Sie sich in die Zeit zurück, als er Les baigneuses (Die Badenden) und Le convoi d'Ornans (Das Begräbnis zu Ornans) malte, und sagen Sie mir, ob jene beiden Meisterwerke nicht bedeutend stärker sind als die zwei diesjährigen Köstlichkeiten. Und doch galt Courbet zur Zeit der Badenden und des Begräbnisses zu Ornans als lächerlich, wurde Courbet vom schockierten Publikum gesteinigt. Heute lacht niemand, wirft niemand Steine. Courbet hat seine Adlerklauen eingezogen, er hat sich zurückgenommen, und alle Welt klatscht Beifall, alle Welt krönt ihn mit Lorbeeren.
  Courbet, Die Badenden


Courbet, Das Begräbnis von Ornans, 
1849/50

Ich erlaube mir, eine Regel aufzustellen, die sich mir aufdrängt: Die Bewunderung der Masse steht immer im ungekehrten Verhältnis zu dem individuellen Genie. Es wird um so mehr bewundert, um so besser verstanden, je gewöhnlicher es ist.

Was mir die Masse da offenbart, ist schlimm. Ich habe die größte Achtung vor dem Publikum, und wenn ich auch nicht so anmaßend bin, es anleiten zu wollen, so habe ich doch zumindest das Recht, es zu studieren. Da ich sehe, daß es auf die verwässerten Temperamente, auf die gefälligen Geister zugeht, ziehe ich sein Urteil in Zweifel und meine, daß ich nicht so unrecht habe, wie behauptet werden mag, wenn ich einem Leprakranken, einem Paria der Kunst Bewunderung zolle.

Und da ich keinen Zweifel an meinem Gefühl tiefer Bewunde(37)rung für Courbet aufkommen lassen möchte, wiederhole ich hier, was ich vor einem Jahr, anläßlich des Erscheinens des Buchs von Proudhon bereits gesagt habe.

Mein Courbet ist schlicht und einfach eine Persönlichkeit. In seinen Anfängen hat der Maler die Flamen und bestimmte Renaissancemeister imitiert, doch sein Wesen lehnte sich dagegen auf, und er fühlte sich von ganzem Herzen - von ganzem Herzen, hören Sie? - zu der konkreten Welt um ihn herum hingezogen, zu den dicken Frauen und den starken Männern, zu den üppigen, fruchtbaren Wiesen und Feldern. Untersetzt und kräftig hatte er den heftigen Wunsch, die wahre Natur zu umarmen. Er wollte richtige Körper und richtige Erde malen.

Die junge Generation, ich meine die Zwanzig- bis Fünfundzwanzigjährigen, kennt Courbet fast gar nicht. Ich hatte Gelegenheit, in der Rue Hautefeuille, im Atelier des Meisters, als er nicht dort weilte, einige seiner frühen Bilder zu sehen, und habe an diesen ernsten, intensiven Gemälden, die man mir als Monstrositäten beschrieben hatte, nichts Lächerliches gefunden. Ich war auf Karikaturen, auf eine tolle, groteske Phantasie gefaßt, und ich stand vor einer geschlossenen, großzügigen, ungewöhnlich fein ausgeführten Malerei.

Die dargestellten Personen waren wirklichkeitsnah, ohne gewöhnlich zu sein. Die festen, geschmeidigen Körper strotzten vor Leben. Der Hintergrund war luftig und gab den Figuren eine erstaunliche Ausdruckskraft. Die etwas gedämpfte Farbigkeit war von beinahe sanfter Harmonie, während die Genauigkeit der Farbwerte und der maltechnische Reichtum Tiefenwirkung erzeugten, so daß jedes Detail bemerkenswert plastisch erschien. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich diese soliden, lebensechten, Schönheit und Wahrheit vereinenden Gemälde aus einem Guß wieder vor mir. Courbet gehörte zur Familie der Menschenmaler. Gewiß kann man mir nicht vorwerfen, mit Lob für den Meister zu geizen. Ich liebe seine Kraft und seine Persönlichkeit.

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Es sei mir gestattet, ihn auf die Menge hinzuweisen, die sich vor seinen Bildern versammelt, und ihm zu sagen: »Geben Sie acht, nun, da Sie öffentliche Bewunderung erringen. Ich weiß genau, daß der Tag Ihres Triumphs kommen wird. Doch an Ihrer Stelle wäre ich betrübt, feststellen zu müssen, daß ich ausgerech(38)net in dem Augenblick akzeptiert werde, in dem meine Hand nachgelassen hat, in dem ich mich nicht aus meinem tiefsten Innern, schonungslos und ohne Kompromisse offenbart habe.«
Ich leugne keineswegs, daß La femme au perroquet (Frau mit Papagei) solide, ausgefeilte und saubere Malerei ist. Ich leugne keineswegs, daß Remise des chevreuils (Rast der Rehe) sehr reizvoll ist. Viel Luft und viel Leben. Aber diesen Gemälden fehlt irgend etwas Kraftvolles, Zielstrebiges, was Courbet sonst ausmacht. Sie sind süß und heiter. Um es vernichtend auszudrücken: Courbet ist gefällig geworden!

 


Courbet, Rast der Rehe, 1866

Man munkelt, man werde ihm die Goldmedaille verleihen. Wäre ich Courbet, wollte ich die höchste Auszeichnung, die La curée (Die Jagd) und Les casseurs de pierre (Die Steinklopfer) verweigert wurde, nicht für La femme au perroquet (Frau mit Papagei). Ich würde verlangen, daß man mich in meinen genialen, und nicht in meinen harmlosen Werken anerkennt. Es wäre für mich irgend etwas Trauriges an dieser Anerkennung für zwei meiner Werke, die ich nicht als starke, gesunde Kinder meines Geistes sähe.
Noch zwei andere Künstler im Salon haben mich zum Weinen gebracht. François Millet und Théodore Rousseau. Beide waren und werden wieder Persönlichkeiten sein, für die ich größte Sympathien hege. Und nun muß ich entdecken, daß sie die Festigkeit ihrer Hände und die Unbestechlichkeit ihres Blicks eingebüßt haben.

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Courbet, Die Steinklopfer, 1849
 


Courbet, Frau mit Papagei, 1866

Ich weiß nicht, was geschehen ist, daß meine Bewunderung für die beiden vergeht.
Ich erinnere mich an die ersten Gemälde, die ich von François Millet gesehen habe. Weite, freie Horizonte. Von den Bildern ging so etwas wie ein Hauch von Erde aus. Eine, höchstens zwei Figuren, einige große räumliche Linien, und schon hatte man das offene Land in seiner wahren Poesie vor sich, in seiner Poesie, die nichts als Realität ist.

Doch ich spreche als Dichter, und das mögen die Maler, wie ich weiß, nicht. Wenn ich als Fachmann sprechen soll, möchte ich hinzufügen, daß François Millets Malerei saftig und solide war, daß die verschiedenen Farbflecken kraftvoll und treffsicher gesetzt waren. Er arbeitete mit starken Kontrasten, mit einfachen Flächen wie alle wahren Maler.
(39) In diesem Jahr stand ich vor einer weichlichen, unentschlossenen Malerei. Man könnte meinen, der Künstler hätte auf Löschpapier gemalt und die Ölfarbe wäre ausgelaufen. Die Gegenstände scheinen im Untergrund zu ersticken. Das ist Wachsmalerei, die man erhitzt hat und deren Farben ineinandergeflossen sind.

In dieser Landschaft spüre ich nicht die Realität. Wir befinden uns am Ausgang eines Dörfchens, und unvermittelt erweitert sich der Horizont. In dieser Weite steht ein einzelner Baum. Hinter diesem Baum erahnt man den ganzen Himmel. Doch ich wiederhole, daß es diesem Gemälde an Kraft und Einfachheit fehlt, die Farbtöne verwischen und vermischen sich, dadurch wird der Himmel klein, und der Baum wirkt wie auf die Wolken geklebt.
Mit Théodore Rousseau verhält es sich ebenso, vielleicht ist es sogar noch trauriger.

Als ich den Salon verließ, hatte ich das Bedürfnis, mir noch einmal die Landschaft des Künstlers anzusehen, die im Musée du Luxembourg hängt. Erinnern Sie sich an jenen urig gewundenen Baum, der sich schwarz vor dem Dunkelrot eines Sonnenuntergangs abhebt? Im Gras stehen Kühe. Das Bild ist tief und gequält. Es zeigt vielleicht keine sehr wahre Natur, aber es zeigt uns Bäume, Kühe, Himmel in der Interpretation eines kraftvollen Geistes, der uns die ergreifenden Empfindungen, die das Land in ihm weckte, in einer ungewöhnlichen Sprache vermittelt hat.
Und ich habe mich gefragt, wie Théodore Rousseau zu dieser Geduldsarbeit gelangen konnte, der er sich heute hingibt. Sehen Sie sich seine Landschaften im Salon an. Die Blätter und die Kieselsteine sind abgezählt, die Bilder wirken wie mit Stäbchen gemalt, mit denen die Farbe Tropfen für Tropfen auf die Leinwand aufgetragen wurde.

Die Darstellung ist ohne Großzügigkeit. Alles wird zwangsläufig klein. Das Temperament verschwindet bei dieser zähen Gründlichkeit. Das Auge des Malers erfaßt den Horizont nicht in seiner Weite, und die Hand kann den von der Intuition aufgenommenen und umgesetzten Eindruck nicht wiedergeben. Deshalb spüre ich nichts Lebendiges in dieser Malerei. Wenn ich Théodore Rousseau bitte, einen Landschaftsausschnitt in die Hand zu nehmen, wie er es einst getan hat, und mir diesen Ausschnitt im Ganzen zu geben, macht er sich einen Spaß daraus, die Landschaft zu zerkrümeln und sie mir als Staub zu präsentieren. 

(40) Seine ganze Vergangenheit ruft ihm zu: Malen Sie großzügig, malen Sie kraftvoll, malen Sie lebendig.

 Ehe ich schließe, kommen mir Bedenken. Die Überschrift dieses Artikels ist recht hart. Ich muß Künstler, die ich liebe und bewundere, heute vielleicht etwas streng beurteilen. Zu meiner Entschuldigung möchte ich eine kleine Begebenheit erzählen.

Nach Erscheinen meines Artikels über Edouard Manet traf ich einen meiner Freunde, dem ich unverblümt meinen Eindruck von den soeben besprochenen Gemälden mitteilte.
»Schreiben Sie das unter keinen Umständen!« rief er aus. »Sie schlagen auf Ihre Brüder ein. Man muß sich zu einer Gruppe, zu einer Clique zusammenschließen und dennoch seine Partei verteidigen. Sie schwingen doch das Banner der Persönlichkeit. Loben Sie alle individualistischen Maler, auch wenn Sie lügen müssen.«

Deshalb habe ich mich beeilt, diese Zeilen zu schreiben.

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Der Abschied eines Kunstkritikers

Ich darf noch zwei Artikel schreiben. Es ist mir lieber, einen daraus zu machen. Nach meiner ursprünglichen Idee sollte Mein Salon sechzehn bis achtzehn Artikel umfassen. Da mir nach dem allmächtigen Willen des Volkes jedoch nicht genügend Platz zur Verfügung steht, um meine Gedanken klar zu entwickeln, halte ich es für gut, die Artikelserie plötzlich zu beenden und mich bei den Lesern zu empfehlen.

Eigentlich bin ich froh. Stellen Sie sich einen Arzt vor, der nicht weiß, wo die Wunde ist, und der, während er seinen Finger hier und da auf den Körper des Sterbenden legt, diesen plötzlich vor Schrecken und Angst aufschreien hört. Ich gestehe mir ganz leise ein, daß ich die richtige Stelle berührt habe, da man sich aufregt. Mir ist es einerlei, wenn Sie nicht gesund werden wollen. Ich weiß jetzt, wo die Wunde ist.

Ich fand nur mäßiges Gefallen daran, Leute zu quälen. Mir war meine Strenge bewußt, mit der ich Künstler beurteilte, die arbeiten und die mit Müh und Not einen unbeständigen Ruf errungen haben, den der kleinste Stoß vernichten würde. Als ich mein Gewissen erforschte, beschuldigte ich mich heftig, die Seelenruhe (41) ausgezeichneter Männer zu stören, die sich die mühsame Arbeit auferlegt zu haben scheinen, alle Welt zufriedenzustellen.

Mit Vergnügen lege ich die Notizen beiseite, die ich mir im Salon zu Eugène Fromentin, François-Henn Nazon, Edouard Dubufe und Léon Gérome gemacht habe. Ich hatte eine ganze Kampagne im Kopf, hatte voller Freude meine Waffen geschliffen, um sie noch schärfer zu machen. Ich versichere Ihnen, daß ich den ganzen Schrott mit größter Wonne hinwerfe.

Ich werde nicht über Eugène Fromentin sprechen und über die gewürzte Sauce, mit der er die Natur schmackhaft macht. Dieser Maler hat uns einen Orient geschenkt, der aufgrund eines seltenen Wunders farbig ist, ohne Licht zu haben. Im übrigen weiß ich, daß Eugène Fromentin der derzeitige Abgott ist. Ich erspare mir die Mühe, ihn um lebendigere Bäume und Himmel zu bitten und insbesondere eine gesunde, starke Originalität von ihm zu verlangen statt dieses unechten Koloristentemperaments, das an Delacroix erinnert, so wie Kaminschirme an die Gemälde von Veronese erinnern.

Ich werde keinen Streit mit François-Henri Nazon wegen der Pappkulissen beginnen, die er uns gegenüber als wirkliche Landschaften ausgibt. Unter uns gesagt, finden Sie nicht, daß dies ein Triumph des Märchenhaften ist, wenn die bengalischen Feuer leuchten und ein rotgelber Lichtschein jedem Gegenstand ein totes Aussehen verleiht?

Was die Herren Gérome und Dubufe angeht, so bin ich heilfroh, nicht über ihr Talent sprechen zu müssen. Ich wiederhole, daß ich eigentlich äußerst empfindsam bin und Menschen ungern Kummer bereite. Leon Géromes Stern sinkt; Edouard Dubufe muß sich furchtbar angestrengt haben, wird aber kaum dafür belohnt werden. Ich bin froh, daß ich nicht die Zeit habe, das alles zu sagen.
Eines tut mir leid: daß ich drei Landschaftsmalern, die ich liebe, keine großen Besprechungen widmen kann: Camille Corot, Charles Daubigny und Camille Pissarro. Aber ich darf ihnen einen festen Händedruck geben, den Händedruck zum Abschied.

Wenn Camille Corot bereit wäre, ein für allemal die Nymphen umzubringen, mit denen er seine Wälder bevölkert, und sie durch Bäuerinnen zu ersetzen, würde ich ihn maßlos lieben. Ich weiß, daß zu diesem zarten Laub, zu dieser lächelnden, feuchten Morg(42)enröte durchsichtige Geschöpfe, in Dunst gehüllte Träume gehören. Deshalb bin ich manchmal versucht, den Meister um eine menschlichere, rauhere Natur zu bitten. In diesem Jahr stellt er zweifellos im Atelier gemalte Studien aus. Mir ist ein mitten in den Feldern, Auge in Auge mit der mächtigen Natur gezeichnetes flüchtiges Blatt, eine Skizze tausendmal lieber.

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Fragen Sie Charles Daubigny, welche seiner Bilder sich am besten verkaufen. Er wird Ihnen antworten, daß es gerade jene sind, die er am wenigsten schätzt. Erwünscht sind eine versüßte Wahrheit, eine sorgfältig gewaschene, saubere Natur, ungreifbare, träumerische Horizonte. Doch wenn der Meister kraftvoll die schwere Erde, den tiefhängenden Himmel, strotzende Bäume und mächtige Ströme malt, findet das Publikum dies äußerst häßlich und grob. In diesem Jahr hat Charles Daubigny die Masse zufriedengestellt, ohne sich selbst allzu sehr Lügen zu strafen. Ich glaube übrigens zu wissen, daß es ältere Bilder sind.

Camille Pissarro ist ein Unbekannter, von dem wahrscheinlich niemand sprechen wird. Es ist mir ein Anliegen, ihm kräftig die Hand zu drücken, ehe ich gehe. Vielen Dank, Monsieur, Ihre Landschaft hat mir bei meiner Reise durch die große Salon-Wüste eine gute halbe Stunde Erholung geschenkt. Ich weiß, daß Sie mit Müh und Not zugelassen worden sind, und gratuliere Ihnen dazu aufrichtig. Im übrigen müssen Sie wissen, daß Sie niemandem gefallen und daß man Ihr Bild zu nackt, zu dunkel findet. Warum, zum Teufel, sind Sie aber auch so bemerkenswert ungeschickt, solide zu malen und die Natur unbefangen zu studieren?
Pissarro, Ufer der Marne im Winter, 1866

Sehen Sie nur, Sie wählen die winterliche Jahreszeit, man sieht nur ein Stück Straße, dahinter eine Anhöhe und bis zum Horizont abgeerntete Felder. Nirgends eine Augenweide. Eine nüchterne, ernste Malerei, deren mit Strenge und Festigkeit angestrebtes letztes Anliegen Wahrheit und Genauigkeit ist. Sie sind ein Einfaltspinsel, Monsieur. Sie sind ein Künstler, den ich liebe.

Ich habe also keine Zeit mehr, die einen zu loben und die anderen zu tadeln. Ich schnüre in aller Eile mein Bündel, ohne hinzusehen, ob ich nichts vergesse. Die Künstler, die ich angegriffen hätte, brauchen sich nicht bei mir zu bedanken, und ich entschuldige mich bei jenen, über die ich Gutes gesagt hätte.
Wissen Sie, daß meine Aufgabe allmählich anstrengend wurde? Man brachte soviel Treu und Glauben auf, mich mißzuverstehen, (43) man diskutierte meine Ansichten mit einer so blinden Naivität, daß ich meinen Ausgangspunkt in jedem Artikel aufs neue klarmachen und verdeutlichen mußte, daß ich in logischer Weise einem unerschütterlichen Grundgedanken folgte.

Ich habe gesagt: »Was ich vor allem in einem Gemälde suche, ist ein Mensch und nicht ein Gemälde.« Und: »Die Kunst besteht aus zwei Elementen: der Natur, dem unveränderlichen Element, und dem Menschen, dem veränderlichen Element. Erschafft Wahres, und ich applaudiere; erschafft Individuelles, und ich applaudiere noch lauter.« Und: »Mir geht es mehr um das Leben als um die Kunst.«
Ich glaubte, man würde meine Einstellung angesichts solcher Erklärungen verstehen. Davon überzeugt, daß jedes Gemälde, in dem kein Temperament sichtbar wird, ein totes Gemälde ist, behauptete ich, daß allein die Persönlichkeit ein Werk lebendig macht und daß ich Menschen suchte. Haben Sie sich nie gefragt, in welchen Dachkammern diese Tausende von Bildern einmal verschimmeln werden, die im Palais de l'Industrie gezeigt werden?

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Mir ist die Ecole française völlig einerlei! Ich habe keine Traditionen; ich befasse mich nicht mit einem Faltenwurf, mit der Haltung eines Körperteils, mit einem Gesichtsausdruck. Ich erkenne nicht so recht, was ein Fehler und was eine Qualität ist. Ich glaube, daß ein Meisterwerk ein in sich geschlossenes Ganzes, der Ausdruck einer Seele und eines Herzens ist. Sie können nichts daran ändern: Sie können nur ein Antlitz des menschlichen Geistes, eine menschliche Ausdrucksform studieren und bestätigen.

Meine Lobrede auf Edouard Manet hat alles verdorben. Es wird behauptet, ich sei der Priester einer neuen Religion. Welcher Religion, bitte sehr? Der Religion, deren Götter alle individuellen, unabhängigen Begabungen sind? Ja, ich gehöre der Religion der freien menschlichen Außerungen an. Ja, ich lasse mich von den tausend Einschränkungen durch die Wissenschaft nicht behindern und gehe geradewegs auf das Leben und auf die Wahrheit zu. Ja, ich gäbe tausend geschickt gemachte mittelmäßige Werke für ein Werk, in dem ich einen neuen, kraftvollen Impuls zu erkennen glaubte, selbst wenn es schlecht wäre.

Ich habe Edouard Manet verteidigt, wie ich mein Leben lang jedes aufrichtige Individuum, das angegriffen wird, verteidigen (44) werde. Ich werde immer auf der Seite der Besiegten stehen. Zwischen den unbezähmbaren Temperamenten und der Masse besteht ein offener Kampf. Ich bin für die Temperamente und greife die Masse an.

Mein Prozeß ist daher entschieden, und ich bin verurteilt worden.

Ich habe die Ungeheuerlichkeit begangen, Edouard Dubufe nicht zu bewundern, nachdem ich Courbet bewundert hatte, die Ungeheuerlichkeit, einer unerbittlichen Logik zu gehorchen.

Ich habe die verwerfliche Naivität besessen, die zeitgenössische Seichtheit nicht ohne Ekel zu schlucken und von einem Kunstwerk Kraft und Originalität zu verlangen.

Ich war gotteslästerlich, indem ich behauptete, die gesamte Kunstgeschichte belege, daß einzig die Temperamente die Zeit überragen und daß die bleibenden Gemälde die erlebten und gefühlten Gemälde sind.

Ich habe die furchtbare Freveltat begangen, mich wenig respektvoll an den kleinen Berühmtheiten des Tages zu vergreifen und ihnen einen baldigen Tod, ein gewaltiges, ewiges Nichtsein vorherzusagen.
Ich war ketzerisch, indem ich all die dürftigen Religionen der verschiedenen Cliquen umstürzte und standhaft die große künstlerische Religion aufstellte, die Religion, die jedem Künstler sagt: »Öffne die Augen, schaue die Natur; öffne die Augen, schaue das Leben.«

Ich habe mich grob unwissend gezeigt, weil ich die Ansichten der vereidigten Kritiker nicht geteilt habe und es unterlassen habe, die Verkürzung dieses Torsos, die Gestaltung jenes Leibes, Form und Farbe, die Schulen und die Regeln zu erwähnen.

Ich habe mich unanständig benommen, indem ich geradewegs auf das Ziel zuging, ohne an die armen Teufel zu denken, die ich unterwegs zertreten würde. Ich wollte die Wahrheit und habe, um zu ihr zu gelangen, zu Unrecht Menschen gekränkt.

Mit einem Wort, ich habe Grausamkeit, Dummheit, Unwissenheit an den Tag gelegt, ich habe mich des Frevels und der Ketzerei schuldig gemacht, weil ich - der Lüge und der Mittelmäßigkeit überdrüssig - in der Menge dieser Eunuchen Männer gesucht habe.
Und deshalb bin ich verurteilt worden!

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